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König, Bernhard

Respekt vor dem „Gewordensein“

Singen mit Senioren und Komponieren für alte Stimmen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2017 , Seite 06

Die musikalische Arbeit mit alten Menschen ist so vielfältig wie die Voraussetzungen, die SeniorInnen mitbringen. Ob Experimentalchor, Seniorenheim oder Hospiz: Die Ausgangsbedingungen für die eigene Tätigkeit könnten unterschiedlicher nicht sein.

„Mama, der Anrufbeantworter ist voll!“ Wir befinden uns auf einem Klausurwochenende für Musikvermittler, als meine Kollegin Monika Winterson dieser Anruf ihres Sohnes erreicht: Das Band sei voll mit Anmeldungen begeisterter Senioren, die ihrer Freude über unser Angebot Ausdruck geben und nun unbedingt dabei sein möchten. Die Kollegin bittet ihren Sohn, alle Anrufer zu notieren und die Aufzeichnungen zu löschen, um Platz für neue Nachrichten zu schaffen. Zwei Stunden später dann ein erneuter Hilferuf aus Köln: Der Anrufbeantworter sei schon wieder voll.
Es ist Mitte November 2010 und der Auslöser dieses ungewohnten Ansturms auf das Telefon unseres Kölner Büros für Konzertpädagogik war eine kleine Notiz in der Wochenendausgabe einer lokalen Tageszeitung: „Singen ab siebzig: Experimentalchor für Alte Stimmen. Anmeldung zum Schnuppertreffen unter 0221“ usw. Kein Foto wohlgemerkt, kein Artikel, bloß ein dürrer, zweizeiliger Veranstaltungshinweis. Leicht zu übersehen – und doch, ganz offenkundig, auffällig genug, um von dieser gut informierten und kulturhungrigen Klientel wahrgenommen zu werden: Binnen weniger Tage werden sich über 120 singbegeisterte Senioren bei uns angemeldet haben, beim hundertsten Interessenten werden wir schweren Herzens eine Warteliste einführen müssen. Schon aus rein pragmatischen Gründen: In unserem Proben­domizil, dem Foyer der Kölner Philharmonie, stehen uns „nur“ 100 Stühle zur Verfügung. Niemand von uns hatte mit einem solchen Ansturm gerechnet.

Die Schönheit „faltiger“ Stimmen

Die Entstehungsgeschichte dieses Chors reicht weit zurück. Bereits während meines Kompositionsstudiums in den frühen 1990er Jahren hatte ich begonnen, mich künstlerisch mit „alten Stimmen“ zu beschäftigen. Ich quartierte mich für drei Wochen in einem Altenheim ein, führte Interviews und fügte sie zu einem O-Ton-Hörspiel zusammen. Dabei faszinierte mich von Anfang an die Expressivität und Einzigartigkeit dieser „faltigen“, mal dünnen oder brüchigen, mal vollen und warmen Stimmen. Für eine direkte dialogisch-musikalische Zusammenarbeit, die über das bloße Dokumentieren hinausgegangen wäre, fehlte mir zum damaligen Zeitpunkt das methodische Handwerkszeug – doch meine Neu­gierde war geweckt.
Gelegenheit, ein solches Handwerkszeug zu entwickeln, bot sich in den folgenden Jahren reichlich. Zusammen mit einigen Kollegen gründete ich nach dem Studium ein konzertpädagogisches „Service-Unternehmen“, das Konzerthäuser, Orchester und Bildungseinrichtungen in ganz Deutschland mit maß­geschneiderten Angeboten versorgte. Dazu zählten neben vielen anderen Aktivitäten immer wieder Workshops für Chorimprovisa­tion, neues Musiktheater oder experimentellen Gemeindegesang, in denen gemeinsam Musik erfunden wurde. Früh fiel mir dabei auf, dass – wo immer dies in generationsgemischten Gruppen geschah – die älteren Semester häufig besonders aufgeschlossen und experimentierfreudig waren. Die Idee spezieller Seniorenprojekte lag da nahe – doch in der „jugendfixierten“ konzertpädagogischen Szene war damals noch kein Raum für derlei Angebote. Wann immer ich im Gespräch mit Auftraggebern vorsichtig auf die Zielgruppe der über 70-Jährigen zu sprechen kam, erntete ich verständnisloses Kopfschütteln: Alte haben wir doch mehr als genug in unseren Konzerten sitzen – warum da noch eigene konzertpädagogische Maßnahmen ergreifen?
So war es ein besonderer Glücksfall, dass die Stuttgarter Addy-von-Holtzbrinck-Stiftung mir 2010 den Auftrag für ein mehrjähriges künstlerisches Forschungsprojekt erteilte, das – anders als die Mehrzahl meiner sonstigen Aufträge – diesmal nicht auf ein spektakuläres Konzert-Event oder auf die Rekrutierung von Konzertpublikum zielte, sondern dessen Zielsetzung schlicht lautete: Komponiere für alte Menschen. Erfinde Musik für sie und mit ihnen. Probiere aus, was geht.
Gemeinsam mit dem Stiftungskuratorium entwickelte ich ein mehrstufiges Projekt, das sich an drei verschiedenen Orten drei höchst unterschiedlichen Daseinsformen von „Alter“ widmet: In einem großen Stuttgarter Altenheim mit mehr als 150 Bewohnern. In einem kleinen Hospiz mit acht stationären Plätzen. Und, last not least, in unserem Kölner Experimentalchor, dessen erste Ankündigung auf so unverhofft großes Echo gestoßen ist.

Organisatorische Anlaufschwierigkeiten

Obwohl wir beileibe keine AnfängerInnen mehr sind, beschleicht uns alle vor unserem ersten Chortermin leise Nervosität. „Wir“ – das sind außer mir vier hochmotivierte Kolleginnen, die allesamt aus ganz unterschiedlichen Gründen den Wunsch entwickelt haben, sich musikalisch mit dieser Zielgruppe zu beschäftigen. Die Jazzsängerin Alexandra Naumann und die Flötistin und Konzertpädagogin Ortrud Kegel werden mit mir zusammen den Kölner Chor leiten. Ein parallel dazu entstehender, kleinerer Chor-„Ableger“ im nahe gelegenen Troisdorf wird von der Kantorin Brigitte Rauscher und der Musikpädagogin Monika Winterson betreut. Alles in allem also eine bunte Truppe mit einer kreativen Vielfalt an Kompetenzen und Arbeitsansätzen.
Das rasante telefonische Feedback hat nicht getäuscht: Trotz Teilnahmebegrenzung und Warteliste finden sich über 100 neugierige Sängerinnen und Sänger zur ersten Schnupperprobe ein. Kaum einer kann sich unter dem Begriff „Experimentalchor“ etwas vorstellen, die meisten haben eine konventionelle Chorarbeit nach Noten erwartet und sind einigermaßen überrascht, als wir sie zur Begrüßung auffordern, sich nicht in vier Stimmen zu sortieren, sondern Männlein und Weiblein bunt zu mischen. Es wird nicht die einzige Überraschung bleiben: Ohne größere Umschweife konfrontieren meine Kolleginnen und ich die staunende Gruppe mit freimetrischen Kanons, Klangfarbenimprovisationen, Flüster- und Sprechstücken.
Ich kann nicht verhehlen, dass in diesem etwas brachialen und gänzlich unpädagogischen Verzicht auf jegliche schonende und vertrauensbildende Hinführung durchaus auch ein Stück Berechnung steckt: Vielleicht, so der anfängliche Hintergedanke, wird unser Chor auf diese Weise von ganz allein auf eine etwas praktikablere Größe schrumpfen. Eine Hoffnung, die sich glücklicherweise nicht erfüllen wird. Nur sehr wenige lassen sich von unserem stark experimentellen Einstieg abschrecken. Stattdessen: viel Begeisterung über all die neuen Erfahrungen.
Neue Erfahrungen sammeln auch wir – vor allem, was die kontinuierliche Arbeit mit einer Gruppe von dieser Größe betrifft. Rein musikalisch lernen wir die Qualitäten eines großen Chors schnell zu schätzen – organisatorisch stellt er uns vor manche Herausforderung. Etwa beim Thema „Kommunikation“: Rund ein Drittel unserer Senioren haben zu Beginn der Proben noch keinen eigenen Internetzugang, gleichzeitig sind wir als Chor ohne festen Probenort und mit häufigen Ausweichquartieren auf eine ständige, funktionierende Kommunikation angewiesen, deren telefonische Abwicklung uns in dieser Größenordnung massiv überfordern würde. Mit Hilfe von „E-Mail-Patenschaften“ lässt sich das Problem kurzfristig lösen, im Lauf der Zeit werden dann einige SängerInnen die Gelegenheit ergreifen, sich erstmals im Leben eine eigene Mailadresse zuzulegen.
Ein zweites Problem: das gegenseitige Kennenlernen. Jegliche Vorstellungsrunde würde den zeitlichen Rahmen sprengen und angesichts dieser Fülle an Namen und Gesichtern wenig Effekt haben. So führen wir stattdessen eine „Lostrommel“ ein, aus der zu Beginn jeder Probe die Namen von vier Choristen gezogen werden. Diese vier dürfen sich der Gruppe kurz vorstellen, sodass im Lauf der Zeit immer mehr Namen ein Gesicht, immer mehr Gesichter einen persönlichen Hintergrund erhalten.

Kinderlieder und Ergotherapie

Sich miteinander bekannt machen: An meinem zweiten Projektschauplatz lässt sich das nicht „mal eben“ nebenher, im Rahmen eines kurzweiligen Fünf-Minuten-Rituals erledigen. Sich gegenseitig kennen zu lernen und Vertrauen aufzubauen ist hier die Arbeit vieler Wochen.
Das Stuttgarter Generationenzentrum Sonnenberg umfasst neben dem stationären Altenheimbereich auch eine ambulante Tages- und Kurzzeitpflege sowie 30 angeschlossene Wohnungen für ein autonomes „betreutes Wohnen“. Vor allem aber – und dies wird mei­ner Arbeit entscheidende Impulse geben – vereint es Seniorenheim und Kindergarten unter einem Dach. Ein weiterer Vorteil für meine Arbeit: Das Haus ist bislang musikalisch „unterversorgt“, zugleich treffe ich bei den fest angestellten MitarbeiterInnen auf große Aufgeschlossenheit und Kooperationsbereitschaft.
Eine wirklich kontinuierliche Arbeit ist für mich aus Budget- und Zeitgründen nicht möglich. Stattdessen besuche ich das Haus alle vier bis sechs Wochen an fünf aufeinanderfolgenden Tagen. Angesichts der begrenzten Zeit und der vielen Bewohner und Betreuungsformen stellt sich da schnell die Frage, wo meine eigene Arbeit überhaupt angesiedelt sein soll. In der Anfangsphase biete ich etwas wahllos mal hier, mal da ein „of­fenes Singen“ an – doch als Vermittler von Neuem, Unbekanntem oder Ungewohntem stoße ich auf diese Weise schnell an meine Grenzen.
Sobald ich versuche, die eingetretenen Volks­liedpfade auch nur minimal zu verlassen, ernte ich Stirnrunzeln oder gar offene Ablehnung. So begleite ich in der Anfangszeit unzählige Male Am Brunnen vor dem Tore und Kein schöner Land (nach einer Weile wage ich eine kleine Revolution und erweitere das hauseigene Standardrepertoire um Mein kleiner grüner Kaktus), verbuche das Ganze als vertrauensbildende Maßnahme und halte unterdessen Ausschau nach weiteren Gestaltungsspielräumen.
Diese ergeben sich, als ich beginne, aktiv an bereits bestehende Angebote anzudocken. An die wöchentliche Gymnastikstunde etwa, in deren Rahmen die fest angestellten Ergotherapeutinnen und ich uns mit wachsendem Vergnügen die Bälle zuwerfen: Dass sie hier, im Kreis sitzend, zu allerlei seltsamen Dingen angeleitet werden, ist den Senioren seit Jahren vertraut. Dass nun zu den Bewegungsübungen auch noch Töne, Rhythmen und Geräusche hinzukommen, sorgt für willkommene Auflockerung und wird – so lange man es nicht „Musik“ nennt – problemlos akzeptiert.
Als sehr fruchtbar erweist sich zudem ein regelmäßiges Format namens „Montagsspaß“, das der gezielten Begegnung zwischen Senioren und Kindern gewidmet ist. Schnell werden die Kindergartenkinder zu meinen wichtigsten Undercover-Agenten in Sachen Musikvermittlung: Wann immer ich einen neuen musikalischen Impuls setzen möchte, bereite ich die entsprechenden Spielregeln und musikalischen Fertigkeiten zunächst im Kindergarten gründlich vor, bevor ich dann im intergenerativen Rahmen auch die Senioren daran teilhaben lasse. Die Akzeptanz ist, gemessen am sonstigen engen Musikgeschmack, beachtlich: Unser „Montagsspaß“-Repertoire reicht mittlerweile von der ge­sungenen Namensrunde über verschiedene stimmliche Geräuschimprovisationen, Dirigierspiele und Nonsens-Lieder bis zum Der-Kuckuck-und-der-Esel-Rap mit chorischer Beatbox-Begleitung.

„Leider etwas ­überengagiert“

Auch in Köln ist der Funke übergesprungen – in beide Richtungen: Die Begeisterungsfähigkeit und Freude „unseres“ Chors steckt unser Leitungsteam von Probe zu Probe mehr an. Zugleich wird aber auch deutlich, dass es einen erheblichen Spagat bedeuten wird, die völlig unterschiedlichen Voraussetzungen unserer SängerInnen unter einen Hut zu bekommen: Manche von ihnen bringen jahrzehntelange Chorerfahrung mit, andere haben noch nie zuvor mehrstimmig gesungen. Manche lesen routiniert vom Blatt, andere lassen sich bereitwillig auf das Abenteuer ein, im Anschluss an die Chorproben von ­Ortrud Kegel in die Geheimnisse der Notenschrift eingeführt zu werden.
Auf große Begeisterung stößt von Anfang an die ausgiebige Stimmbildung, angeleitet von den beiden Gesangsprofis Alexandra Naumann und Brigitte Rauscher. Meinen eigenen Beitrag sehe ich vor allem im kompositorischen Bereich angesiedelt. Für die erste reguläre Chorprobe habe ich einen konventionell gesetzten, vierstimmigen Alte-Stimmen-Tango geschrieben, der – stilistisch irgendwo zwischen Comedian Harmonists und Wise Guys angesiedelt – ein Stück musikalischer Altersdiskriminierung beschreibt:

Unser kleiner, aber feiner Kirchenchor
hat seit Kurzem einen neuen Herrn Kantor.
Der ist jung, dynamisch und sehr motiviert,
aber leider etwas überengagiert,
vor allem, wenn es um die nette
und adrette
Sopranette geht,
die bei ihm immer in der allerersten Reihe steht,
dort himmelt er sie an,
weil sie hoch singen kann
und vermutlich auch noch einfach so
als Mann.

Im Verlauf von vier Strophen wird ein „Aufstand der Alten“ beschrieben, die ihren Chorleiter aus pädagogischen Gründen im Stich lassen, um ihn so davon zu überzeugen, dass eine einzelne „junge Sopranette“ noch keinen funktionierenden Chor ausmacht.

Unsre alten Stimmen
sind hier wohl nicht so recht willkommen.
Drum haben wir uns
heut Abend einmal frei genommen.
Indem wir uns die Probe schenken,
tun wir den Altersdurchschnitt senken
mit Effizienz und Garantie:
Nur er und sie,
so jung war dieser Chor noch nie,
ist das nicht toll?!

Im „wirklichen Leben“ unseres eigenen Kölner Chors wird schnell deutlich, dass der Text zwar auf allgemeine Erheiterung und viel Anklang stößt – dass ich aber auf musikalischer Ebene mein Thema verfehlt habe. Viel zu schwer ist dem überambitionierten „Herrn Kompositeur“ sein erster Versuch geraten – der Bass zu tief, die Mittelstimmen zu komp­liziert – und auch die eigentliche Zielsetzung des gesamten Unternehmens ist hier noch nicht eingelöst: Statt uns gemeinsam auf die Suche nach einer „Ästhetik der alten Stimmen“ zu begeben, verbringen wir viel Probenzeit damit, traditionellen Vorbildern nachzueifern. Und so sind es fürs Erste eher die freien Einsingübungen, in denen schon jetzt von Zeit zu Zeit das erhoffte „unnachahm­liche“ künstlerische Potenzial aufschimmert.

Spitzenensemble im Speisesaal

Es sind vielbeschäftigte Menschen mit vollen Terminkalendern, mit denen wir es in unserem Kölner Experimentalchor zu tun haben. Der eine kann nur punktuell zu unseren Proben erscheinen, weil er so viel auf Reisen ist, die andere berichtet stolz, dass sie soeben begonnen hat, Alphorn zu lernen. Ganz anders im Altenheim: Wer hier lebt, hat immer Zeit. Die Höhepunkte des Tages bestehen in der morgendlichen Bingo-Runde und in der Verlesung des Speiseplans fürs Mittagessen. Der Reichtum liegt in der Vergangenheit – und hat häufig mit Musik zu tun.
Der 80-jährige Herr R. hat als Jugendlicher Geige gespielt. Nach dem frühen Tod seiner Mutter zog er mit seinem Vater auf den Bauernhof von dessen neuer Frau. Diese verleidete ihm systematisch das Geigenspiel, indem sie erklärte, ein solches Instrument habe auf einem Hof nichts verloren. Irgendwann ergriff der junge R. vor Wut seine Geige und zertrümmerte sie, indem er sie mit voller Wucht auf den Küchentisch schlug. Seither sind über sechs Jahrzehnte vergangen. Im Rahmen meiner Besuche habe ich mehrfach versucht, Herrn R. zum Geigespielen zu überreden – vergeblich. Anders sieht die Sache aus, als eine junge Geigenstudentin die Über­zeugungsarbeit übernimmt: Herr R. lässt sich bezirzen, nimmt zum ersten Mal seit sechseinhalb Jahrzehnten wieder eine Geige in die Hand, spielt ein paar Töne – und hat sichtlich Spaß daran.
Auch Herr G. hat bereits in jungen Jahren begonnen, ein Instrument zu lernen. Anders als sein Altenheimgenosse R. ist er dem Akkordeon sein Leben lang treu geblieben, bis ihm vor zwölf Jahren ein Schlaganfall den linken Arm lähmte. Gemeinsam wagen wir einen ersten Versuch – doch da ich weder Akkordeonist bin noch über ergotherapeutische Kenntnisse verfüge, bin ich schnell mit meinem Latein am Ende. Zum Glück findet sich im Umfeld des Altenheim-Personals ein Ergotherapeut, der in jungen Jahren selbst Akkordeon gespielt hat und bereit ist, Herrn G. „unter die Arme zu greifen“.
Ein aufeinander eingespieltes Team wie in Köln steht für meine Stuttgarter Aktivitäten zunächst nicht zur Verfügung. Doch je besser ich die Bewohner hier kennen lerne und je mehr sich die Handlungsoptionen dadurch zu differenzieren beginnen, umso wichtiger wird es, Bündnispartner zu gewinnen. Den Studiengang für Elementare Musikpädagogik an der Stuttgarter Musikhochschule zum Beispiel, dem ich meine beiden studentischen Assistentinnen zu verdanken habe. Mit viel Sensibilität bringen sich Patrizia Birkenberg und Bettina Wackerbarth als Ad-hoc-Musikerinnen und Instrumentallehrerinnen ein – und, wo nötig, eben auch als charmante „Überzeugerinnen“.
Eine weitere, sehr viel ungewöhnlichere Kooperation wird durch Kontakte zur freien Musikszene ermöglicht. In Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Veranstalterinitiative „Musik der Jahrhunderte“ und mit finanzieller Förderung durch ein Musikvermittlungsprogramm der Kulturstiftung des Bundes ist es gelungen, eine zeitlich begrenzte Zusammenarbeit mit einem Spitzenensemble der zeitgenössischen Vokalmusik in die Wege zu leiten. So legen die Neuen Vocalsolisten nun also mehrfach einen Zwischenstopp im Speisesaal des Generationenzentrums Sonnenberg ein, um sich dort – zwischen Uraufführungen und CD-Aufnahmen in aller Welt – singend, horchend und experimentierend auf das Abenteuer „alte Stimmen“ einzulassen. Eines der „Highlights“: eine fünfminütige choralartige Improvisation mit einem stark demenzkranken Bewohner, dessen Tenorstimme sich völlig mühelos in die freien Akkordfolgen der ProfisängerInnen fügt.

Das erste ­Experimentalstück

Zurück nach Köln. Für unseren Experimentalchor hat sich eine erste Auftrittsgelegenheit ergeben, eine „Politische Nachtmusik“ im Rahmen des Evangelischen Kirchentags. Wir bereiten ein Stück für Nachrichtensprecherin und improvisierenden Chor vor. Christiane Wedel, eine professionelle WDR-Sprecherin, liest tagesaktuelle Nachrichten, der Chor reagiert darauf mit zuvor festgelegten und eingeübten Improvisationsmodellen: gesun­ge­ne Echos von Politikernamen und anderen Schlüsselbegriffen zum Beispiel, die – in Kombination mit den nüchtern vorgetragenen Nachrichtentexten – fast zwangsläufig eine gewisse Komik entwickeln. Am Tag der ersten Probe für dieses Stück handelt eine aktuelle Meldung von seismografischen Messungen. Wir picken uns den Begriff „Erdbebenmessstation“ heraus und machen seine Silben und Buchstaben zum Ausgangsmaterial für verschiedene Improvisationsspiele.
14 Tage später hat das Wort „Erdbeben“ eine völlig neue Bedeutung erhalten. Die japanische Ostküste ist vor wenigen Tagen von der größten Katastrophe der Nachkriegszeit heim­gesucht worden. Niemandem von uns steht der Sinn nach irgendwelchen satirisch angehauchten Nachrichten-Spielereien. Stattdessen legt sich auf unseren Vorschlag hin jeder Chorist einen kurzen Satz zurecht, mit dem er seine ureigensten Gedanken und Gefühle zu den Geschehnissen in Japan ausdrückt. Anschließend improvisieren wir auf Grundlage weniger einfacher Regeln eine etwa zehnminütige Gedenkmusik. Viel Stille, sparsame Klavierklänge, sachlich vorgetragene Nachrichten aus Fukushima und eine Chorpartie, in der sich die subjektiven Gedanken, Sorgen und Fürbitten der Choristen zu vielstimmigen Akkorden mischen. „Objektiv“ betrachtet sicher nicht viel mehr als ein Ausdruck kollektiver Hilflosigkeit – für uns selbst aber eine bewegende Erfahrung, die den Chor weiter zusammenwachsen lässt. Ein Chor-Ehepaar kündigt an, befreundeten Chorsängern aus Tokio noch am gleichen Abend per Mail von unserem musikalischen Gedenken berichten zu wollen.

Der Komponist als Zusammensetzer

Auch im Stuttgarter Generationenzentrum Sonnenberg sollen irgendwann „Kompositionen“ entstehen. Aber was kann dieser Begriff hier bedeuten? Und was habe ich (der ich kein Therapeut oder Kulturgeragoge bin) an diesem Ort überhaupt zu suchen? Im Kontext eines Alten- und Pflegeheims „komponieren“ zu wollen, entpuppt sich als Gratwanderung. Kri­tische Anfragen an ein solches Vorhaben lassen sich aus verschiedenen Richtungen stellen. Von der einen Seite: Hat das überhaupt irgendeinen künstlerischen Mehrwert oder geht es hier bloß noch um Beschäftigungstherapie? Von der anderen Seite: Was haben die Altenheimbewohner, was hat die Institution von all dem konzeptionellen und finanziellen Aufwand, der hier betrieben wird?
Die Schnittmenge beider kritischen Anfragen könnte lauten: Warum dieser hochtrabende Anspruch? Sollte man nicht lieber die Kirche im Dorf lassen und diese Aktivitäten als das beschreiben, was sie wirklich sind: eine ziemlich luxuriöse Form von Freizeit- und Aktivierungsangebot für Menschen mit stark eingeschränkter Mobilität und schwindenden geistigen und körperlichen Fähigkeiten?
Doch es geht hier nicht nur um terminologische Spitzfindigkeiten. Die Selbstverortung als „Komponist“ hilft mir, zugleich auch die eigene Rolle klarer zu fassen. Zum Beispiel, indem ich einige grundlegende handwerk­liche Prinzipien meines Berufs auf dieses neue Tätigkeitsfeld übertrage.
Als Komponist habe ich gelernt, zu Beginn einer Arbeit zunächst systematisch deren Rahmenbedingungen auszuloten und ein bestimmtes „Material“ zu definieren, von dem ich bei allen weiteren Schritten ausgehen werde. Viele dieser Vorbedingungen – in der Fachsprache der Neuen Musik spricht man auch von „Parametern“ – werden mir von außen vorgegeben: durch die Tonumfänge der beteiligten Musikinstrumente, durch die konkrete Aufführungssituation (z. B. die Raumakustik) oder auch durch die Vorgeschichte der betreffenden musikalischen Gattung.
Im Altenheim habe ich es mit einem sehr komplexen Bündel solcher vorgegebenen „Parameter“ zu tun: Neben den Sachzwängen und Vorgaben der Institution sind es vor allem die Akteure, die mir den Rahmen meiner Arbeit diktieren. Ihre körperliche Verfassung, ihr Musikgeschmack, ihre biografischen Erfahrungen, der Grad ihrer Aufgeschlossenheit und geistigen Beweglichkeit – dies alles muss ich zunächst als „gesetzt“ betrachten. Im Extremfall bedeutet dies: Wenn mein Gegenüber alle Arten von Musik außer dem deutschen Volkslied ablehnt, so ist dies zu akzeptieren und mein Auftrag kann angesichts seines hohen Alters nicht mehr darin bestehen, mich missionarisch für irgendeine musikalische Stilistik stark zu machen. Oder, in den Worten einer Hospizpatientin: „Ich bin 81 und habe nicht mehr lange zu leben, da habe ich das verdammte Recht, starrköpfig zu sein.“
Als Komponist habe ich aber auch gelernt, mich mit dem Vorgefundenen allein nicht zu begnügen: Wenn ich ein Streichquartett schreibe, soll es anders klingen als die Streichquartette, die zuvor von anderen geschrieben wurden. Wie aber passt dieser Anspruch mit dem Respekt vor dem „Gewordensein“ meines Gegenübers zusammen? Wie kann eine solche Zielsetzung aussehen?
Anders als bei einem Therapeuten leitet sie sich nicht von irgendwelchen Krankheitsbildern oder Heilungszielen her. Anders als beim Komponieren für den Konzertsaal hat sie nichts mit „Originalität“ oder künstlerischer Positionierung zu tun. Worum es geht, ist stets das einzelne Gegenüber: Sein in Jahrzehnten gewachsenes Ausdruckspotenzial, seine Biografie und seine körperlichen Handicaps sind nicht nur Ausgangspunkt, sondern zugleich auch Zielpunkt meiner Arbeit. „Gelungen“ ist eine solche Komposition in dem Moment, wo sie ein ästhetisches Umfeld zu bieten vermag, das diesem expressiven Potenzial maximale Wirkung und maximale Stimmigkeit verleiht. Wo zum Beispiel die einstige Sopranistin, die ihre Lieblingsstücke heute nur noch in tiefer Baritonlage zu brummen vermag, den eigenen Gesang nicht mehr als defizitär erlebt, sondern wo dieser Gesang in einen Kontext eingebettet ist, der ihn als ästhetisch notwendig und einzigartig erstrahlen lässt.
Denn auch dies habe ich als Komponist gelernt: Differenz als Bereicherung zu verstehen, gezielt nach dem „Besonderen“ zu suchen. Wäre ich ein traditioneller Chor- oder Ensembleleiter, dann würde sich mein Ehrgeiz darauf richten, die größtmögliche Annäherung an ein vorgegebenes musikalisches Ideal zu erreichen: möglichst „schönen“ Gesang, möglichst „richtige“ Töne, möglichst klare und jugendliche Stimmen. Meine Rolle als Komponist hilft mir, glaubhaft und mit großer Neugierde nach dem Gegenteil zu suchen: der maximalen Normabweichung. Ich habe keinen Grund, die Kurzatmigkeit oder Heiserkeit oder gedankliche Sprunghaftigkeit meines Gegenübers als Defizit empfinden zu müssen, sondern ich darf mich per definitionem für sie begeistern. Meine handwerkliche Aufgabe besteht darin, diese Begeisterung so zu kanalisieren, dass sie sich auf mein Gegenüber und auf etwaige Zuhörer überträgt.
Wobei es solche Zuhörer geben kann, aber nicht zwangsläufig geben muss. Noch einmal „vor Publikum“ zu singen – das kann für die eine ein Traum sein, für den anderen eine Horrorvorstellung. Vieles von dem, was ich im Verlauf dieses Projekts komponiert habe oder noch komponieren werde, findet als „Kammermusik“ hinter verschlossenen Türen statt. Dies gilt vor allem für den dritten Schauplatz des Projekts „Alte Stimmen“ (der hier, weil seine ausführliche Darstellung den Rahmen dieses Textes bei Weitem sprengen würde, nur kurz erwähnt sei): das Hospiz Stuttgart, das ich seit November 2010 ebenfalls regelmäßig alle vier bis fünf Wochen ­besuche. Hier verbietet sich jede Form von Öffentlichkeit; die Kompositionen, die hier entstehen, richten sich an einige wenige, manchmal nur an einen einzigen Menschen: an Sterbende und ihre Angehörigen.
„Komponieren“ heißt auf Deutsch „zusammensetzen“. Komponieren im Altenheim kann bedeuten: sich zusammenzusetzen. Genau hinzuhören. Ein wenig Eigenes hinzuerfinden. Und das Vorgefundene mit dem Hinzuerfundenen am Ende so zusammenzusetzen, dass Stimmigkeit entsteht – und Schönheit. Nicht mehr und nicht weniger.


Dieser Beitrag ist entnommen aus: Hans Hermann ­Wickel/Theo Hartogh: Praxishandbuch Musizieren im Alter. Projekte und Initiativen. © Schott 2011, Mainz

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