© Jonas Bublak

Spiekermann, Reinhild

Kammermusik 55+

Neue Erkenntnisse zur Kammermusikpraxis älterer Laien

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2017 , Seite 12

Die Kammermusikpraxis älterer Musikliebhaber ist ein noch weitgehend unerforschtes Feld. Um einen ersten Zugang zur Kammermusik­praxis älterer Laien zu schaffen, ­richtete die Hochschule für Musik Detmold im November 2015 ein Musizier- und Begegnungs­wochen­ende für Erwachsene ab 55 Jahren aus, verbunden mit einer wissenschaftlichen Untersuchung, bestehend aus Fragebogen- und Inter­viewerhebung. Die Erkenntnisse ­liefern einen weiteren Baustein zu einer umfassenden Darstellung des Musizierens älterer Laien.

„Kammermusik war eigentlich immer das, was mich am meisten interessiert hat. Ich spiele natürlich auch im Orchester. Zum Beispiel gibt’s in Bayern das Bayerische Juristenorchester: Die kommen zwei, drei Mal im Jahr zusammen und haben ein Probenwochenende, da spiele ich mit. Das ist auch schön, aber ich muss sagen: Es macht größeren Spaß, in der Kammermusik zu agieren. Da hat man irgendwie mehr Verantwortung, es kommt mehr auf einen an, man kann mehr dazu beitragen. Und deswegen ist die Kammermusik ganz oben, die macht mir am allermeisten Freude.“
Der nach eigenen Angaben aus einfachen Verhältnissen stammende Herr H. sieht die Ursache seiner Liebe zur Musik im frühen ­familiären Umfeld. Der Vater, ein Schreinermeister, konnte „ein bisschen Geige spielen“, die Mutter hatte „eine wunderschöne Sopranstimme“, sang im Kirchenchor und nahm ihn dorthin auch mit. Als Bratscher, Sänger und Hornist, der „sehr, sehr viel“ musiziert, darf man Herrn H. sicherlich das Attribut „Generalist“ zuweisen, der im Laufe seines Lebens in vielen Bereichen der Musik heimisch geworden ist.
Trotzdem betont er im Rahmen eines Interviews, das anlässlich einer Studie zum Kammermusizieren Älterer an der Hochschule für Musik Detmold geführt wurde, die persön­liche Bedeutung der Königsdisziplin: „Also eine Krönung der Kammermusik, um dieses Klischee einfach mal zu bedienen, ist schon das Streichquartett-Spielen. Wir haben die Beethoven-Sachen gespielt: Die frühen Beethoven-Quartette sind auch von Amateuren ganz gut machbar, bei den mittleren ist es schon ganz schwierig und bei den späten hört’s ja fast auf. Aber das waren schon sehr schöne Momente. Oder die Schubert-Quartette: Wir haben uns sogar an dieses groß­artige C-Dur-Quintett von Schubert heran­gewagt. Das ist schon eigentlich das Beste gewesen, was wir überhaupt schaffen konnten. Im Amateurbereich klappt natürlich nicht alles so toll, wie man’s im Konzert hört oder auf der CD, das muss man eben in Kauf nehmen.“
Mit klar formulierten Worten grenzt er allerdings ab: „Aber ich selber mag eigentlich das Wort von der Hausmusik nicht mehr so gern. Das Wort Hausmusik, das ist so ein bissel verstaubt und hat auch etwas Hausbackenes. In diese Ecke wollen wir nicht hineingedrängt werden, wir wollen es schon auch ordentlich spielen. Ich war lange Zeit in einem Quartett in München, da bin ich immer 100 Kilometer gefahren, zu jedem Termin. Die waren so streng, dass die gesagt haben: Jeder muss hundertprozentig vorbereitet sein zu diesem Quartett-Termin. Denn das vom Blatt zu spielen und so schlecht und recht eben nur abzuliefern, das geht nicht. Sondern wir wollen es ordentlich spielen, nur daran haben wir eine Freude.“
Die Grundhaltung des Befragten ist von Leistungsansprüchen an sich und sein Musizieren geprägt. Mit seinen Fähigkeiten scheint er gut innerhalb einer Amateurszene vernetzt zu sein, die überdies Gelegenheiten hat, auch mit professionellen Musikerinnen und Musikern zusammenzuspielen. Dennoch zeigt auch seine Biografie, dass das Musizieren nicht in jedem Lebensabschnitt die gleiche Rolle spielen kann: „Als ich so die wilden Berufsjahre durchlebte, so im Alter zwischen 40 bis Mitte 50, da meint man, man kann noch die Welt verändern und ist beruflich voll motiviert und hat auch ein gesundes Streben, nach vorne zu kommen. Das hat meine Kräfte sehr absorbiert, da ist die Musik sehr in den Hintergrund getreten. Wenn man dann ­älter wird, dann relativiert man das Ganze, dann merkt man, dass es eigentlich doch nicht das Einzige ist, was einen im Leben weiterbringt, und dass es andere Werte gibt.“
Jedoch muss Herr H. auch von unvorhergesehenen Rückschlägen berichten: „Es gibt ja überall eine Krise. Auch in Beziehung zu meinem Horn. Und ich wollte es eigentlich vor einem Jahr schon aufgeben. Und dann hab ich aber doch noch einen Anlauf gemacht und bei dem Augsburger Orchester nachgefragt, ob sie nicht einen Orchestermusiker hätten, der im Ruhestand sei und vielleicht so einen älteren Herrn gern unterrichten würde. Dann haben die gesagt: ,Nein, so was haben wir nicht. Sie werden eine junge Hornistin als Lehrerin bekommen.‘ Und bei der hab ich jetzt seit einem guten Jahr Unterricht. Die hat mich derart nach vorne gebracht und motiviert, dass es die helle Freude ist, mit diesem Horn möglichst zwei Stunden pro Tag zu üben.“
Die hier durchschimmernde und vom Befragten an etlichen Stellen beschriebene Zielstrebigkeit gipfelt in der klaren Lebenserkenntnis: „Ich hab nicht mehr so viel Zeit. Ich habe gerade mein Alter angegeben [der Befragte war zum Zeitpunkt des Interviews 69 Jahre alt] und da muss ich sehr haushalten mit der Zeit. Deswegen ist da Eile angesagt.“

Untersuchung zeichnet heterogenes Bild

Ist dieser Amateur, der hier als Fallbeispiel herangezogen wurde, eine Ausnahme? In welcher Situation befinden sich Menschen, die ihr Instrumentalspiel für eine lange Zeit unterbrochen haben, nun im Älterwerden wieder beginnen wollen und ihren Traum am liebsten im gemeinsamen Musizieren umsetzen würden? Welche Strategien entwickeln Laien, um in kammermusikalischen Besetzungen musizieren zu können? Welche Vernetzungen existieren zwischen Instrumentalunterricht und Kammermusikpraxis?
Auf diese Fragen gibt es bislang nur begrenzt Antworten. Einerseits liegen – neben Arbeiten über die Bedeutung von Musik für Lebensqualität und Wohlbefinden – Forschungs­beiträge über Instrumentalunterricht bzw. Bedeutung des Instrumentalspiels1 vor, andererseits gibt es Erhebungen zur Chor-, Ensemble- oder Orchesterarbeit älterer Laien. In den wenigen existierenden Untersuchungen zur Kammermusik hingegen dominieren hinsichtlich der Zielgruppe Schülerinnen und Schüler, Heranwachsende, junge Studierende oder professionelle Musiker. Mit (älteren) Laien beschäftigen sich diesbezüglich nur Patricia Cox2 und Kara Eaton.3
Die jetzt vorliegenden Ergebnisse der Untersuchung der Hochschule für Musik Detmold zur Kammermusikpraxis älterer Laien4 zeichnen ein äußerst heterogenes Bild. Menschen mit einer von Musik durchzogenen Biografie, der musikalischen Hochkultur stetig zugewendet und gut vernetzt, stehen neben Personen, deren Musizieren ohne Vorbilder bzw. Kontinuität zu sein scheint, auf der (im Einzelfall auch vergeblichen) Suche nach Gelegenheiten zum Miteinander-Musizieren. Aus allen Probanden spricht ein enormer Wissensdurst, der als Leidenschaft für anhaltendes Lernen in der Lebensspanne gedeutet werden kann. Die persönlichen Fähigkeiten der befragten Laien reichen vom Anfänger am Instrument über die Wiedereinsteigerin bis hin zu einzelnen „Laien-Experten“, die ein beachtliches halbes Jahrhundert musizieren und kontinuierlich an sich arbeiten.

Hohe Ansprüche an den Unterricht

Der größte Teil der Befragten nimmt zum Erhebungszeitpunkt Unterricht, Musikschule und Privatlehrkraft werden gleichermaßen genutzt. Als Unterrichtsform dominiert der Einzelunterricht, bevorzugt im wöchentlichen Turnus. Inhaltlich, aber auch organisatorisch werden hohe Ansprüche an den Unterricht und die Lehrperson gestellt, häufig in engem Zusammenhang mit einer vergleichbaren Haltung gegenüber dem eigenen Musizieren, wie sie Frau S. schildert: „Ich finde wichtig, dass man in unserem Alter wirklich eine professionelle Begleitung hat. Ich hatte über Jahre immer wieder Anfragen von Blockflötenkreisen. Ging für mich gar nicht. Blockflöten, wenn sie nicht grad so in diesem Oktett wie damals mit meinem Bruder geführt sind – ganz stringent und sauber, mit toller Musik, Palestrina und so –, dann geht das für mich gar nicht. Die Zeit hab ich auch gar nicht, und das ist mir nicht wichtig genug, dass ich da so ein bisschen trällere und dann Tee trinke. Das ist alles nicht meine Welt.“
Konsequenterweise nimmt sie regelmäßig Unterricht: „Was ich in diesen kurzen Sequenzen erarbeite, dass ich das noch besser auf die Literatur anwende. Dass ich also dann nicht wieder wie so ein scheues Huhn rumtapse, sondern dass ich die Einstellung mit dem Mund und Atmung in Ruhe übertrage, dass ich mich sicherer fühle. Und ich werde auch weiter Unterricht nehmen. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass ich singe ohne Unterricht, das find ich nicht in Ordnung. Da geht man zu schnell wieder Irrwege, oder es schleicht sich irgendwas ein, was einem selber nicht so bewusst wird.“
Vertieft man sich in die Biografie von Frau S., trifft man auf ein anderes, häufig auftretendes Element des Musizierens in der Lebensspanne, das für die Kammermusikpraxis und das Unterrichten gleichermaßen von Bedeutung ist: den Instrumentenwechsel.5 Die Befragte erzählt: „Die ganze Palette: Geige, Flöte – und zwar eigentlich alle Blockflöten. Dann Querflöte, zehn Jahre Klavierunterricht, so ab 32, 33 hab ich mit Oboe angefangen, hatte aber immer Unterricht. Und dann hab ich 20 Jahre Oboe gespielt, war immer wieder mal für zehn Jahre, von 50 bis 60, im Ausland. Und ich hab jetzt auch Probleme mit Augendruck, und da denke ich, ist die Oboe nicht so gut. Deswegen habe ich mit 60 jetzt angefangen, Gesang zu machen, auch immer mit Unterricht.“

Verschiedene Lösungen für Musizierpartner

Im Kontrast dazu stehen Lebensläufe von ­Befragten, die als Autodidakten musizieren, längst ihren Platz in musikalischen Formationen gefunden haben, aber wie Herr B. vor Unterricht zurückschrecken: „Ich würd’s gerne, aber ich hab auch ein bisschen Bammel davor. Ich müsste praktisch von ganz vorne anfangen. Und ich hab mir so viel beigebracht, wahrscheinlich auch Verkehrtes beigebracht, dass ich wahrscheinlich schier dran verzweifeln würde.“ Andere wiederum finden trotz vieler Bemühungen keine Musizierpartner, was zu Resignation und Rückzug oder aber zu höchst originellen Lösungen führen kann, wie sie Herr L. schildert, der nach kurzem Unterricht in der Kindheit durch den Vater auch eher den Autodidakten zuzuordnen ist: „Also ich hab dann seit einigen Jahren ein Computerprogramm, mit Hilfe dessen ich jetzt Stücke eingeben kann. Und ich schaffe mir meine Begleiter. Da hab ich ’n Pianisten, einen virtuellen, und hab dann auch Trioergänzungen oder Streichquartettergänzungen. Da kann man durchaus spielen für sich selber.“
Die von den Probanden beschriebene Kammermusikpraxis liefert ein nuancenreiches Gesamtbild. Manche der Befragten musizieren in wechselnden, kleineren Besetzungen, die sich nach pragmatischen Gesichtspunkten verändern können. Bemerkenswert sind auch die Berichte von außergewöhnlichen, in kein Raster passenden Besetzungen.6 Musiziert wird im familiären Rahmen, mit Freunden oder in Formationen, die ausschließlich zum Musizieren zusammenkommen. Durch das soziale Umfeld handelt es sich oft um altershomogene Gruppen, doch der Wunsch nach einem Generationendialog ist bei Herrn H. zu spüren: „Was ein großartiger Neben­effekt ist, dass man viele Leute kennen lernt und dass auch die Generationen zusammenkommen. In dem Ensemble, welches ich da in Neuburg habe, da gibt’s ganz viele junge Leute. Und es gibt überhaupt keine Berührungsängste oder Grenzen oder Abschottungen oder Isolationen zwischen Jung und Alt! Da bist du als älterer Mensch genauso willkommen, wenn die merken: Aha, der kann ein bissel was, der ist gut, der ist geschickt. Und umgekehrt ja auch: Wenn ein junger Mensch was kann und man merkt: Aha, den kann man einsetzen. Wenn ich in der Lokalzeitung lese, heut Nachmittag ist Altennachmittag, da treffen sich die Alten zum Kaffee oder so – da würd ich niemals hingehen. Ich geh auch niemals in Seniorenclubs oder irgendwas in der Richtung. Ich bin doch selber alt, ich will doch zu jungen Menschen.“

Sonderfall: Einsamkeit am Klavier

Einen Sonderfall stellen die Klavierspielerinnen und -spieler dar. Die lange Tradition des Einzelunterrichts im Fach Klavier scheint nicht dienlich zu sein für das Entwickeln von Fähigkeiten, die für das Zusammenspiel in kleineren Besetzungen notwendig sind. Auch wenn die heutige Klavierpädagogik längst erkannt hat, dass frühes gemeinsames Musizieren wichtig ist, und dies in Form von vier- bis mehrhändigem Spiel inzwischen von Anfang an pflegt,7 kommt diese Erkenntnis für den älteren Erwachsenen häufig zu spät. Im Detmolder Projekt genossen die Klavierspieler die für alle Beteiligten ungewohnte Besetzung des (vom Blatt spielenden) „Klavier­orchesters“.8
Dazu passt die Erkenntnis aus den Interviews, dass das Verlassen des Klaviers sozial motiviert sein kann. So berichtet beispielsweise Frau M.: „Ich möchte gern vor allen Dingen auch Musik mit anderen Menschen machen. Beim Klavier war ich immer sehr alleine. Gerade die Kommunikation über das Instrument, über die Musik, das find ich so spannend. Deswegen hab ich dann auch angefangen mit Gitarre und dann mit der Gambe. Beim Klavier ist man ja ziemlich einsam.“
Kammermusik machen zu können, setzt immer voraus, passende Musizierpartnerinnen und -partner zur Verfügung zu haben, und ist damit ein Stück weit auch „gelegenheitsbezogen“. Bei allen in der Studie geschilderten Positiva klingen immer wieder auch Schattenseiten an: Vernetzung – zwischen Amateuren, aber auch zwischen Unterricht, Kammermusikpraxis oder Konzertleben – wird nicht immer vorgefunden. Der Wunsch nach weiterer Begegnung, nach modularen, vielfältig aufeinander bezogenen Angeboten hallt dem Detmolder Musizier- und Begegnungswochenende nach. Das Motto und Fazit, gleichsam auch als Handlungsimperativ, lautet: „Menschen zueinander bringen!“


1 Gesangsunterricht bzw. Gesang sind immer mitgemeint.
2 Patricia H. Cox: „The socialization of members of a string quartet towards their roles as musicians“. Research Presentation: 6th International Symposium on the Sociology of Music Education, Limerick 2009; bib­liografisch erfasst nach: Colleen M. Conway (Hg.): The ­Oxford Handbook of Qualitative Research in American Music Education, Oxford University Press, Oxford 2014, S. 426.
3 Kara G. Eaton: Finding the fountain of ,you‘. A case study of older adult string players’ identity, self-efficacy, and wellbeing as community musicians, Dissertation, New York University 2013.
4 Reinhild Spiekermann: Kammermusik 55+. Menschen zueinander bringen. Empirische Untersuchung und Praxisworkshop, unter Mitarbeit von Jonathan D. Misch, Waxmann, Münster 2017.
5 William Dabback setzt die Instrumentenwahl sogar in Bezug zur Identität eines Menschen. Er berichtet anlässlich seiner Studie mit Mitgliedern einer Seniorenband: „Players form new musical identities, reclaim identities that were important in their youth, or revise existing identities by taking up new, social instruments.“ William M. Dabback: „Identity formation through participation in the Rochester New Horizons Band programme“, in: International Journal of Community Music, 1 (2), 2008, S. 267-286.
6 wie z. B. ein „Tischsingkreis“ oder Formationen aus Klavier, zwei Celli, drei Geigen, zwei Bratschen, einer Blockflöte/Querflöte und einer Flöte/Klarinette.
7 Auf dem deutschen Markt hat sich der Verlag Helm & Baynov als Spezialverlag für Klavierensemble etabliert. Der Verlag veröffentlicht nicht nur laufend neue Arrangements für verschiedene Klavierbesetzungen, sondern organisiert auch entsprechende Workshops oder Wettbewerbe.
8 unter Leitung von Jairo Geronymo (jüngste Veröffent­lichung: 4 Prima Vistas. Blattspiel für 4 Solo-Hände an 2 Klavieren, mit Play-along-Dateien zum kostenlosen Download, Wiesbaden 2016).


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