Bradler, Katharina / Oranna Sperber

Kommunizieren – reagieren – fühlen

Neue Anregungen für die Musizierpraxis in Streicherklassen und (großen) Gruppen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2016 , Seite 17

Streicherklassen gehen auf eine lange Tradition zurück und sind heute aus dem Unterrichtsangebot von Musikschulen und Schulen nicht mehr wegzudenken.1 Dabei liegt der Schwerpunkt des Unterrichts nicht selten auf dem Auf- und Ausbau der Spieltechnik und der Entwicklung eines bestimmten Repertoires. Dieser Beitrag richtet den Blick auf Aspekte, die bislang seltener Berücksichtigung gefunden haben, und zeigt, wie bereits im Anfängerstudium in gemischt besetzten Streichergruppen kreativ mit Musik umgegangen werden kann.

Häufig sind Unterrichtswerke für Streicherklassen so angelegt, dass Violin-, Viola-, Cello- sowie KontrabassschülerInnen die gleiche Stimme spielen. Der Aufbau orientiert sich an instrumentaltechnischen Erfordernissen und ist spieltechnisch fortschreitend:3 Ein Finger folgt dem nächsten. Der Fokus liegt auf dem Proben von Bewegungsabläufen. Das Repertoire in gängigen Streicherklassenschulen4 ähnelt sich. Viele der Stücke stammen aus traditionsreichen Fortbildungsprogrammen, die sich methodisch an Paul Rolland orientieren und zusammen mit einem Bündel von Prinzipien5 einen didaktischen Meilenstein im Streicherklassenunterricht bilden.
Es ist an der Zeit, darüber hinaus weitere Anreize für einen vielfältigen Musizierunterricht zu schaffen, Unterrichtsinhalte zu erweitern und neue Methoden in den Blick zu nehmen. Warum nicht den Fokus auf sinnliche Wahrnehmung legen? Warum nicht die Aufmerksamkeit auf den Musizierprozess selbst legen? Was spricht dagegen, das Potenzial des gemeinsamen Spielens mit unterschiedlichen Stimmen von Anfang an zu nutzen? Sich über ästhetische Erfahrung6 auszutauschen, kooperativ zu arbeiten? Warum nicht dem Orchesterklang, der musikalischen Kommunikation unterschiedlicher Instrumente nachspüren? Anregungen zum Improvisieren geben, Impulse aus der Rhythmik aufgreifen, neue Musik interpretieren und zum Komponieren motivieren? In den Fokus des Unterrichtsgeschehens rücken können auch das Erspüren und Nachvollziehen musikalischer Strukturen, Form- und Gestaltungsprinzipien wie Spannung/Entspannung, Agieren/Reagie­ren, Nähe/Ferne, Verdichten/Entzerren etc.7 Gerade im Gruppenunterricht besteht die Mög­lichkeit, Musik als kommunikativ zu erleben; fragen und antworten, auffordern, provozieren, besänftigen etc. in der Musik zu erkennen, umzusetzen und deren Klangeigenschaften zu besprechen. Dabei geht es um den Austausch von Erfahrungen, das Sich-Streiten über geeignete Gestaltungsmittel8 und somit den Ausbau gestalterischer Fähigkeiten.
Außer Frage steht, dass vieles hiervon in der Praxis bereits umgesetzt wird. Schriftlich aus­gearbeitet wurden diese Aspekte jedoch bisher kaum. Diese Lücke sollen einige Praxisbeispiele füllen. Selbstverständlich verstehen sich diese als anknüpfungsoffen. Im besten Fall schaffen sie Anreize, neue Wege zu gehen, die SchülerInnen und Lehrpersonen an ungeahnte Orte der musikalischen Lust und (Er-)Kenntnis bringen.

Streitgespräch

Dieses Musizierexperiment stellt den kommunikativen Aspekt des Miteinander-Musizierens in den Vordergrund. Ziel ist es, einerseits die Musik als gestisch und kommunikativ und andererseits sich selbst als aussagefähig im Musizieren zu erleben.9 Die Klasse erhält die Aufgabe, pantomimisch (ohne Inst­rumente) ein Streitgespräch darzustellen.10 Das kann dialogisch oder mit mehreren Beteiligten geschehen. Der Rest der Klasse beobachtet das Schauspiel.
Im Anschluss wird über die dargestellten Ges­ten reflektiert. Was bedeutet die Mimik? Welche Aussage steckt dahinter? Was löst diese im Gegenüber aus? Die Beobachter helfen dabei, den Akteuren die Gesten bzw. kleinen Bewegungen bewusst zu machen. Im zweiten Durchlauf werden die Rollen getauscht. Schließlich sollen sich alle Beteiligten auf eine begrenzte Anzahl an Gesten einigen (z. B. fünf), die sie alle körperlich/mimisch darstellen können.
Im nächsten Schritt sollen sich die SchülerInnen Gedanken machen, wie sich diese Gesten klanglich mit Instrumenten umsetzen lassen. Selbst wenn die Kinder oder Jugend­lichen erst zwei gegriffene Töne oder lediglich Leersaiten kennen, kann gestisch gestaltet werden: laut oder leise spielen, am Steg, über dem Griffbrett, mit Druck, ohne Druck, federnd, drückend, springend etc. Die SchülerInnen können einen schnellen oder langsamen Rhythmus wählen, einen aufsteigenden oder abfallenden Melodieverlauf und mit Spieltechniken und Klangeigenschaften des Instruments experimentieren. Hier sollten die Lehrkräfte ausreichend (manuelle) Hilfestellungen geben und Zeit für Wiederholungen einplanen.
Um bei der Einstudierung der musikalischen Gesten ein Klangchaos zu vermeiden, bietet es sich an, mit Kleingruppen auf mehrere Räume auszuweichen. Möglich ist aber auch, verschiedene Arbeitsaufträge innerhalb der Klasse zu vergeben, z. B.: Immer nur eine Person spielt, zwei bis drei korrigieren das Spiel und geben technische Tipps, der Rest gibt Feedback zum Gehörten. Wenn sich die Klasse auf fünf Spielweisen geeinigt hat, wird sie von einer Schülerin oder einem Schüler angeleitet. Diese Dirigentin/dieser Dirigent nimmt wechselnd eine der fünf Gesten ein und die SpielerInnen reagieren mit der entsprechenden Klanggeste. Die anleitende Schülerin kann nach Belieben zwischen den Ausdrücken wechseln, Pausen einbauen und Ähnliches.

1 zur Begriffsklärung von „Streicherklasse“ und „Klassenmusizieren“ siehe Katharina Bradler: Streicherklassenunterricht. Geschichte – Gegenwart – Perspektiven, Augsburg 2014, S. 136.
2 vgl. ebd., S. 176 ff.
3 vgl. ebd., S. 194 f. und Daniel Prantl: „Die Musikschule im Klassenzimmer. Streicherklassen aus der Perspektive von Prozess-Produkt-Didaktik“, in: Bernd Clausen (Hg.): Teilhabe und Gerechtigkeit, Münster 2014, S. 169.
4 vgl. Bradler, S. 197 f.
5 vgl. ebd., S. 76 ff.
6 zum Begriff der ästhetischen Erfahrung siehe Ursula Brandstätter, www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung (Stand: 20.04.2016) und Christian Rolle: Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse, Kassel 1999.
7 vgl. Rebekka Hüttmann: Wege der Vermittlung von Musik. Ein Konzept auf der Grundlage allgemeiner ­Gestaltungsprinzipien, Augsburg 2009, S. 109-111 und Frauke Heß: „Muster, Formen und Strukturen. Methoden und Potenziale des Musikerfindens in der Schule“, in: musikunterricht 2/2015, S. 4-9.
8 vgl. Rolle, S. 164.
9 vgl. hierzu auch Jürgen Oberschmidt: „Musik als Ges­te. Einige Überlegungen zu Bewegungsstudien im Musikunterricht in Anlehnung an Gedanken von Ludwig Wittgenstein“, in: musikunterricht 2/2015, S. 26-33.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2016.