Thielemann, Kristin

Generation Reklamation

Konfliktmanagement: So werden nörgelnde Eltern zu Unterstützern

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2016 , Seite 40

„Die Tochter meiner Nachbarin kann viel besser Klavier spielen als mein Sohn, obwohl er zwei Monate vor ihr angefangen hat!“ – „Die Geigenstunde ist oft drei oder vier Minuten zu kurz!“ – „Warum ist mein Kind immer noch schlecht in der Schule, wenn Musik doch intelligent macht?“ Solche oder ähnliche Reklamationen haben wohl viele Lehrkräfte bereits erlebt.

Bei Diskussionen auf Kongressen und Fachgruppensitzungen ist bei mir der Eindruck entstanden, die Beschwerdekultur der Eltern habe sich in den vergangenen Jahren verändert. Sind Erziehungsberechtigte heute viel schneller als noch vor einigen Jahren bereit, auf die Lehrkraft ihres Kindes zuzugehen, nachzufragen, Probleme zu schildern oder sich zu beschweren? Generell ist eine Reklamation, so unschön sie sich für die Betroffenen auch anhören mag, nicht unbedingt nur negativ! Sie signalisiert das Interesse der Eltern an der musikalischen Ausbildung ihres Kindes und bietet der Lehrkraft die Möglichkeit, die erbrachte Leistung (also den gehaltenen Unterricht) zu hinterfragen und zu verbessern.
Eine Umfrage unter Instrumental- und GesangspädagogInnen mit langjähriger Unterrichtserfahrung1 ergab, dass Eltern heute direkter und unverblümter als vor dem Aufkommen von Smartphones und Sozialen Medien ihre Eindrücke (positive und negative) zum Instrumentalunterricht äußern. Durch Soziale Netzwerke, Mails und Chats stehen Eltern vielfältige Kontaktmöglichkeiten zur Instrumentallehrkraft zur Verfügung. Die Distanz zur Lehrkraft, wie bis Ende der 1990er Jahre üblich, ist durch die Verwendung dieser modernen Technik deutlich reduziert. Zwar war unter den TeilnehmerInnen der Umfrage niemand, der Beschwerden direkt per Chat-Nachricht erhalten hätte, aber durch die aus diesen Medien intensiveren, häufigeren und persönlicheren Elternkontakte ergibt sich ­eine andere Beziehungsebene. Das stärker empfundene „Auf-Augenhöhe-Sein“ mit der Instrumentallehrkraft ermuntert Eltern, mehr von sich und ihren Kindern preiszugeben.

Mehr Meckern dank moderner Technik?

Nicht vergessen sollte man zudem, dass unsere Gesellschaft generell reklamationsfreudiger geworden und das eigene Befinden und Erleben stärker in den Mittelpunkt gerückt ist. Wie oft finden sich – oft unbedacht – Smileys und sogenannte Emojis in Nachrichten und Texten? Beständig werden wir im Internet aufgefordert zu „liken“ oder „disliken“. Bei der Hotelbuchung lassen wir uns von der Beurteilung anderer beeinflussen, vom Arzt über den Friseur bis hin zum Restaurant werden im Internet viele (Dienst-) Leistungen kommentiert, mit Sternen, Punkten oder Weiterempfehlungen versehen. Wir sind heute in unserer Mediennutzung und der damit einhergehenden omnipräsenten Aufforderung nach unserer Meinung so sehr gefragt, dass es uns schwerfällt, Dinge hinzunehmen, ohne sie zu bewerten.
Hinzu kommt, dass sich unsere Gesellschaft mehr als je zuvor in einem „Optimierungsmodus“ befindet: verbesserte Arbeitsstrukturen und -abläufe im Beruf, Reformen des Schulsystems oder Updates für Smartphone, Computer, Programme oder Apps mit zusätzlichen Features könnten suggerieren, dass Musikunterricht oder eine Musikschule, die nicht in regelmäßigen Abständen optimiert oder reformiert wird oder sich nicht in den neuesten und innovativsten Unterrichts­methoden fortbildet, veraltet und somit schlecht sei. Ohne Update keine Qualität? Trifft das auch für unseren Berufsstand in diesem Maße zu?

Erwartungsdruck der Eltern

Eine besonders dramatische Entwicklung der Reklamationsfreudigkeit von Eltern ist in allgemeinbildenden Schulen zu beobachten, in denen sich Lehrkräfte immer mehr in der Rolle von Leistungserbringern sehen: Sie werden für die schulische Ausbildung der Kinder bezahlt, also haben sie am Ende auch für den bestmöglichen Schulabschluss zu sorgen; und das natürlich mit nahezu mühelosem Lernen und möglichst fesselnden Lerninhalten, so die Meinung vieler Eltern. Medien berichten ständig über Schülerinnen und Schüler, deren Leistung zwar nicht für das Abitur, der Geldbeutel der Eltern allerdings für einen guten Anwalt reicht.

1 Die Auswertung meiner Umfrage ist nachzulesen unter www.trompetelernen.ch/extras (Passwort: umfrage2016).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2016.