Burkhardt, Otto Paul

Verborgene Wahrheit aus den Tiefen der Seele

Uraufführung der Wallander-Oper „W – The Truth Beyond“ als universitäres Großprojekt in Tübingen

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 5/2016 , Seite 44

Hand aufs Herz: In einer Stadt wie Tübingen – ohne Opernhaus und Profi-Orchester–, da ist eine Musiktheater-Uraufführung zweifellos etwas Besonderes. Gab’s das überhaupt schon? Das Stadtarchiv gibt als Jahr der jüngsten Tübinger Opern-Uraufführung 1767 an: Da erklang erstmals Il cacciatore deluso vom württembergischen Hofkapellmeister Niccolò Jommelli – im bald danach wieder abgerissenen herzoglichen Theaterhaus.
Nun also wurde Fredrik Sixtens Wallander-Oper W – The Truth Beyond in Tübingen aus der Taufe gehoben – als universitäres Großprojekt, getragen von einer ganzen Reihe von Fächern, von Musik- und Medienwissenschaftlern, Germanisten und Skandinavisten. Und gleich vorweg: Dieser überall hör-, sicht- und spürbare gemeinsame Elan macht den Charme dieses Projekts aus. Universitäts­musikdirektor Philipp Amelung, Impulsgeber, Motor und Leiter des Ganzen, hatte 2013 für sein Opernprojekt sogar noch den Segen des Wallander-Erfinders Henning Mankell erhalten: Der inzwischen verstorbene Krimiautor, eigentlich ein Mann des Theaters und als solcher in Europa und Afrika (Mozambik) tätig, hatte Amelung ermuntert. Seine Romane, so Mankell, seien wie Sprungbretter, von denen aus man ins Wasser springen und sich frei schwimmen könne.
Genau darum bemühte sich das Team um Amelung und kreierte einen audiovisuellen Prolog über die Figur des Kommissars Kurt Wallander zu Puccinis „E lucevan le stelle“ (bis die Platte in einer Rille hängen bleibt) – eine Hommage, die auf Tosca, eine Urmutter der Kriminalopern anspielt, aber auch auf Wallanders Opernfaible und beginnende Demenz – ein vieldeutig schillernder Einstieg. Danach setzt die Partitur des schwedischen Kirchenmusik-Komponisten Fredrik Sixten (*1962) ein: Aus dem Untergrund tremolierender Kontrabässe, begleitet von dumpf pochenden Trommelschlägen, steigt langsam, fast passionsartig, in Posaune und Fagott ein chromatisches Motiv nach oben und verdichtet sich zu einem ersten massiven Cluster im Fortissimo – ein Klangsymbol für die aus den Tiefen der Seele heraus zu Tage geförderte Wahrheit.
Fredrik Sixtens Tonsprache lässt sich als polystilistisch beschreiben. Puccini-Melos, Strawinsky-Rhythmik, Britten’sche Melancholie, Tango, Musical, skandinavische Folklore und gar Polizei-Lalü – die Partitur ist reich an derlei Allusionen. Sixtens Musik gibt sich bekennend tonal grundiert, ignoriert atonale oder serielle Dogmen der Avantgarde. Wie immer man das nennen mag: postmodern, vielleicht auch neoromantisch.
Philipp Amelung und die Württembergische Philharmonie Reutlingen realisieren diese opulente, hoch dramatische und psychologisch sensible Musik bei der Uraufführung mit Präzision und emotionaler Dichte – in den alptraumhaften Klangballungen und in der kammermusikalischen Raffinesse, in der rhythmischen Vielfalt und im melodischen Schmelz.
Das komplexe Libretto von Klas Abrahamsson erzählt einerseits einen weiteren Wallander-Krimi, der andererseits einen 15 Jahre alten Fall neu aufrollt und den Fokus stark auf das Thema Transsexualität lenkt: Denn der Mord an Anders Jonsson hat damit zu tun, dass dieser, geboren und aufgewachsen als Frau, bei der Suche nach einer neuen sexuellen Identität als Mann sein Leben lang unter Gewalt und Ausgrenzung leiden muss.
Regisseurin Julia Riegel blendet die Zeitschichten optisch sinnfällig ineinander: das Jetzt in kalter Monochromie, das Damals in warmen Farben. Mag die Personenführung auch hin und wieder statisch wirken, lässt sie doch vielfach Ideenreichtum aufblitzen. Etwa in der Eingangssequenz, wenn Kurt Wallander mit einer Party im Ystader Polizeipräsidium in den Ruhestand verabschiedet wird – und die Kollegen eine Riesentorte auffahren, auf der ein Blaulicht rotiert.
Der Akademische Chor Tübingen löst seine erzählerische, kommentierende Funktion mit Bravour und Farbenreichtum. Und stellvertretend für das überwiegend junge, spielfreudige und stimmlich gut sortierte Solistenensemb­le seien erwähnt: Matias Bocchio als nachdenklich verschatteter Wallander, Johannes Fritsche mit vollem, weichem Bariton als Anders Jonsson, Thérèse Wincent als Christina Berglund und der Gärtnerplatz-Tenor Volker Bengl als expressiver Mörder Fredrik Berglund, den stets ein Leitmotiv in der Klarinette verrät.
Apropos universitäres Großprojekt: Die Medienwissenschaftler steuern Videosequenzen bei (Szenografie: Susanne Marschall), die oft ins Innere, in die Vergangenheit der Figuren eintauchen. Vor allem: Die Musikwissenschaftler zeichnen für die vielschichtige Dramaturgie verantwortlich (Jörg Rothkamm, Assistenz: Fabian Kurze), zudem stammt von ­ihnen das Gros der gut recherchierten Programmheft-Beiträge. Lehrveranstaltungen im Vorfeld – etwa zu den Themen „Programmheft Oper“, „Produktionsdramaturgie Opernuraufführung“ und „Vom Libretto zur Uraufführung: Eine Oper entsteht“ – ermöglichten den Studierenden zusätzlich unschätzbare Einblicke in die Musiktheater-Praxis. Inzwischen ist die Uraufführung auch am Wallander-Wirkungsort Ystad gezeigt worden.
Kurzum: W – The Truth Beyond kommt als universitäres Projekt weitgehend ohne Mitwirkung hinlänglich bekannter Profis großer Opernhäuser aus. Das ist spürbar, macht aber auch den Reiz dieser Produktion aus, deren Frische sich gerade abseits üblicher Staatstheater-Routine zeigt: beflügelt vom Gemeinschafts- und Erkundungsgeist der Mitwirkenden.

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