Widor, Charles-Marie

Suite florentine (1919)

für Flöte und Klavier, hg. von Emmanuel Pahud

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition, Wien 2016
erschienen in: üben & musizieren 5/2016 , Seite 58

Sie kennen das sicher: Man hört eine bestimmte Musik, wird von ihr entzündet und möchte sie gerne auch spielen. Dumm nur, wenn das fragliche Werk eigentlich für ein anderes Instrument geschrieben wurde. Glücklicherweise haben einige KomponistInnen ihre Werke selbst für verschiedene Instrumente umgearbeitet. Und es gibt wunderbare InstrumentalistInnen, deren Bearbeitungseifer uns eine Fülle an neuem Repertoire ermöglicht. Emmanuel Pahud, Soloflötist der Berliner Philharmoniker, formuliert im Vorwort vorliegender Ausgabe seine Intention zur Herausgabe der „Flute Collection“: „Wir Musiker und Musikerinnen befinden uns ständig auf der Suche nach neuen Klängen und interessantem Repertoire, was uns erlaubt, dem Instrument unverwechselbare Gestalt zu verleihen.“
Nun liegt Charles-Marie Widors Suite florentine mit der von Rien de Reede 2015 rekonstruierten Flötenstimme als höchst erfreu­liche Bereicherung des Konzertrepertoires vor – gewohnt übersichtlich gedruckt von der Universal Edition. FlötistInnen haben nun zwei Möglichkeiten: Entweder schaffen sie eine vollkommen unabhängige, neue Flöteninterpretation und legen ihren Schwerpunkt auf die instrumentenspezifischen Möglichkeiten dieses wunderbar kammermusikalisch geführten Gesprächs von Klavier und Solostimme, oder sie lassen sich von violinspezifischen Klangmöglichkeiten der ursprünglichen Violinsuite inspirieren.
Ein Hörvergleich mit dem Original für Violine und Klavier lohnt in jedem Fall: Zwar lassen sich viele Violin-Solostimmen recht problemlos auch mit der Querflöte interpretieren, aber es gibt ja doch instrumentenspezifische Unterschiede. So sind z. B. die in Nr. IV (Tragica) ab Takt 27 gedachten Violin-Pizzicati auf der Flöte im Staccato in der musikalischen Wirkung sicherlich anders zu gewichten, sind Abstrich-Akzente oder die etwas leichteren Aufstriche deutlich anders nuanciert als flötistische Akzente, erwächst größeren Tonsprüngen und Tonrepetitionen wie etwa in Nr. I (Cantilena) ab Takt 20 durch Bogenführung und Lagenwechsel eine andere Spannung als beispielsweise das Oktavieren bzw. Repetieren auf der Flöte. Andererseits hat man auf der Flöte natürlich wiederum andere Möglichkeiten der Linienführung auf einem Atem. Doch diese feinen Details in der Interpretation werden FlötistInnen bei diesen wirkungssicheren Vortragsstücken sicher im positiven Sinne herausfordern.
Diese Flötenfassung von Widors der spätromantischen Tradition verpflichteten, geistreichen und äußerst eleganten Suite florentine stellt eine wertvolle Erweiterung des Konzertrepertoires dar und sollte bald häufiger zu hören sein.
Christina Humenberger