Müller, Alexandra

„Achte auf deine Gedanken…“

Annäherung an einen achtsameren Umgang mit sich selbst auf der Bühne

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2015 , Seite 17

Im Seminar “Präsenz und Auftritts­training” findet eine ganzheitliche Hinführung zu einem achtsameren Umgang mit sich selbst, mit dem eigenen Denken auf der Bühne statt. Welche Parameter sind hier wichtig? Wie gestaltet sich diese Annäherung?

„Wenn ich einen Fehler mache, kann ich kaum weiterspielen.“ „Ich denke an tausend sinnlose Dinge, nur nicht an die Musik.“ „Ich habe so viele Regeln im Kopf, dass ich gar nicht weiß, wie ich sie alle befolgen soll.“ „Meine Gedanken machen mich fertig!“ – Welcher Musiker, welche Musikerin kennt das nicht? Konzentration ist gefragt, jetzt „kommt’s drauf an“, doch die Gedanken führen uns, wohin wir nicht wollen. Wir sind irgendwo, nur nicht auf der Bühne und auch nicht in der Musik. Versagensszenarien tauchen auf: „Bestimmt steige ich gleich aus!“ „Alle werden sehen, dass ich zittere.“ „Ich werde mich blamieren!“ Auch dies sind fast allen MusikerInnen bekannte Denkmuster, besonders in extremen Stresssituationen wie z. B. einem Probespiel oder einer Prüfung.

Gesamtorganischer Zusammenhang

In welchem psycho-somato-mentalen Zusam­menhang tauchen solche Gedanken auf? Wie sind wir „im Ganzen“, wenn wir so denken? Dass Gedanken in einem gesamtorganischen Zusammenhang stehen, ist mittlerweile nachgewiesen und eigentlich bekannt. Wir fühlen, spüren und denken als eine Ganzheit, nicht nacheinander und getrennt.
Doch meine StudentInnen staunen immer noch sehr darüber, dass Gedanken mit Körperspannung, mit Aufrichtung, mit Atem zu tun haben sollen. Und so sind sie denn auch etwas skeptisch, wenn es im Kurs „Präsenz und Auftrittstraining“ zunächst einmal um Körperwahrnehmung und Körperübungen geht. Wenn sie dann allerdings Erfahrungen mit diesen und weiteren Kursinhalten in ihrem Auftrittsalltag machen, werden die Zusammenhänge nach und nach verständlicher. Heinrich Jacoby schrieb dazu in den 1940er Jahren: „Der Mensch selbst kann nur als einheitliche Ganzheit erfasst werden […] Er besteht nicht aus Körper und Geist und Seele. Nirgends können wir ,körperliche‘ Vorgänge ohne gleichzeitige ,geistig-seelische‘ Veränderungen finden, so wenig, wie es ,geistig-seelische‘ Vorgänge gibt ohne gleichzeitige ,körperliche‘ Veränderungen.“1
Allerdings scheint das mechanistische Zeit­alter noch nicht abgeschlossen zu sein, noch immer ist von Bewegungsapparat die Rede, die Unterscheidung in den Arztpraxen zwischen „seelisch“ und körperlich“ ist nach wie vor gang und gäbe und das Denken, wenn es denn störend wirkt, soll durch ein rein mentales Training verändert werden.

Gedanken und ­„Überlebensmodus“

Gedanken sind auch körperliche Vorgänge. Jeder Gedanke hat eine physiologische Reaktion zur Folge: Hormone werden ausgeschüttet, je nach Inhalt der Gedanken sehr unterschiedliche. Im Falle der anfangs geschilderten sind das Adrenalin und Cortisol, Stresshormone, die über die Aktivierung des autonomen Nervensystems, des Sympathicus, den so genannten „Überlebensmodus“ in Gang setzen. Das Stammhirn wird aktiv. Es geht um Existenzielles bzw. Flucht oder Kampf. Man fühlt sich als Opfer, der Situation hilflos ausgeliefert. Originalton einer Studentin: „Ich hoffe, ich überlebe die Prüfung, hab jetzt schon dauernd Herzrasen.“

1 Rudolf Weber: Die Entfaltung des Menschen. Arbeit und Bestreben Heinrich Jacobys vor dem Hintergrund seiner Biografie, Berlin 2010, S. 122.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2015.