Leikert, Sebastian

Musikpädagogik und Psychoanalyse

Achtsamkeit als Pforte für psychisches Wachstum in der musikpädagogischen Beziehung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2015 , Seite 22

Gibt es Punkte der Vergleichbarkeit zwischen Musikpädagogik und Psychoanalyse? Sebastian Leikert zeigt im Vergleich ­beider Disziplinen, welche Rolle Achtsamkeit für eine gelungene ­musikpädagogische Beziehung spielt.

Musik, so meine These, kann als eine Praxis verstanden werden, die psychische Zusammenhänge aufgreift, entwickelt und transformiert. Mit unseren Emotionen schreiben wir uns in die Musik ein: unsere Trauer, unsere Kraft und Zärtlichkeit, unsere Hoffnung und unseren Jubel erleben wir in der Musik gespiegelt und sublimiert. Musik beeinflusst psychische Zustände. Sie kann Gruppen zusammenführen, Emotionen hervorrufen, bündeln und vertiefen. Sie kann die emotionale Realität des einzelnen Menschen wachrufen, bereichern und umgestalten. Ein Aspekt liegt in einem gewissen Zwang zur Überschreitung. Wenn Musik formuliert ist, kann sie in dieser Form kompositorisch nicht mehr reproduziert werden: Die Musik muss sich fortent­wickeln. Die Bach’sche Meisterschaft in der Behandlung der Fuge kann von Beethoven oder Mozart nicht reproduziert werden, die Komponisten müssen weitergehen. Adorno spricht vom Materialfortschritt.
Natürlich spielen in diesem Prozess noch viele andere Faktoren mit und das Grundprinzip des Materialfortschritts ist auch anderen Prozessen eigen: Wenn eine Formulierung einmal in der Welt ist, wenn ein Gedanke einmal gedacht, eine technische Neuerung erreicht ist, muss dazu Stellung bezogen werden. Das eröffnet neue Räume und ermöglicht Veränderung.
Die Psychoanalyse arbeitet mit eben diesem Prinzip. Der Analytiker lauscht zugewandt, aber zurückhaltend den Assoziationen des Analysanden und hebt bestimmte Punkte hervor oder deutet Zusammenhänge, die bisher noch nicht bewusst waren. So kann z. B. deutlich werden, dass ein Patient seinen Chef unbewusst so erlebt wie seinen Vater. Wenn er gegen seinen Chef kämpft, versucht er damit, seinen vielleicht längst verstorbenen Vater zu treffen, dem er einmal ohnmächtig gegenüberstand. Wenn ein solcher Zusammenhang einmal mit Evidenz herausgearbeitet ist, hat sich die Situation für den Analysanden verändert: Er kann sich aktiver mit der Erinnerung an den Vater auseinandersetzen und sich mit freierem Blick fragen, was sein Chef jenseits der „Vaterbedeutung“ denn nun für ein Mensch ist. Dies ist die Wirkung der Deutung. Deutung ist Materialfortschritt. Musik und Psychoanalyse kochen mit dem gleichen Wasser: Sie repräsentieren etwas von der emotionalen Wirklichkeit und ermöglichen damit eine Überschreitung bisheriger Erlebensräume.1

Die Bedeutung der Beziehung

Bedingung der Wirksamkeit für die Psychoanalyse ist die Übertragungs­beziehung. Veränderung von neurotischen Leidenszuständen gelingt ausschließlich durch die analytische Übertragungsbeziehung zwischen Patient und Analytiker, in der die für den Patienten spezifischen Konflikte auftreten, verstanden und zu passenderen Lösungen geführt werden können. Entscheidend dabei ist die Verabredung zu langfristigen regelmäßigen Treffen, bei denen ausschließlich die seelische Welt und die Entwicklung des Analysanden im Zentrum stehen soll; die Wünsche des Analytikers sind diesem Ziel unterzuordnen. Eine solche Verabredung bezeichnen wir als Setting, und innerhalb eines solchen Settings bekommt die Beziehung eine enorme Bedeutung. Neben der Elternbeziehung und den Liebesbeziehungen wird die Beziehung zum Analytiker zu der bedeutsamsten Beziehung einer Biografie.

1 Sebastian Leikert: Schönheit und Konflikt. Umrisse ­einer allgemeinen psychoanaly­tischen Ästhetik, Gießen 2012.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2015.