Doerne, Andreas

Wohin mit dem ­musikalischen Erbe?

Über die Unmöglichkeit der Verwaltung des Unverwaltbaren lebendiger Kunst

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2015 , Seite 06

Unsere klassische Musikkultur ist ausgezehrt und verbraucht. Weit­­gehend gereinigt von zeitgenössischen Einflüssen und gefangen in zwanghafter Reproduktion histo­rischer Werke ist sie zu einer musealen Pseu­dokultur verkommen. Weil Schönheit zum Fetisch erhoben und die Los­lösung vom alltäglichen Leben zum Standard gemacht worden ist, hat klassische Musik ihre aufrührende, verändernde, bewusstseinsbildende Kraft verloren. – Diese alarmierende Analyse unseres Musik­lebens hat Nicolaus Harnoncourt in seiner vor über 30 Jahren entstandenen Essay-Sammlung “Musik als Klang­rede” formuliert. An seine Gedanken knüpft Andreas Doerne an.

Harnoncourts Bestandsaufnahme geht noch weiter. Er konstatiert ein fundamentales Unverständnis der klassischen Musik (vor allem jener um und vor 1800) sowohl bei den Interpreten als auch beim Publikum, die – beide mit historischer Blindheit geschlagen – ein einziges großes Missverständnis erzeugen, wenn sie Musik aus der Vergangenheit aufführen. Gleichzeitig betont Harnoncourt, dass überhaupt nur jene Menschen, die zur selben Zeit der Entstehung einer Musik leben, diese vollständig verstehen können, und dass jeder Versuch, die ursprüngliche Wirkungsweise einer Musik durch Rekonstruk­tion der historischen Aufführungspraxis authentisch zu simulieren, eine Illusion ist. Auch legt er dar, wie die Notation von Musik sich ab dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert von einer Werkskizze für umfassend ausgebildete und im zeitgenössischen Stil versiert sich bewegende Musiker (für die eine notierte Andeutung genügte, um zu wissen, was der Komponist meint) zu einer Spielanweisung entwickelt hat, indem immer mehr musikalische Parameter minutiös notiert wurden, weil Komponisten den kompositorisch mitdenkenden Musiker nicht mehr voraussetzen konnten. Dieses sich immer weiter verengende Verständnis einer Partitur als Spielanweisung hat sodann im Laufe der Zeit eine pervertierte Vorstellung von Werktreue hervorgebracht, die davon ausgeht, dass ein Interpret exakt das zu spielen habe, was im Notentext niedergeschrieben steht – nicht mehr und nicht weniger. Gleichzeitig Triebfeder und Symptom dieser Entwicklung ist unsere Hinwendung zur Musik der Vergangenheit. Soweit Harnoncourt.
Schuld an dieser Misere, so muss man festhalten, sind allerdings nicht die überlieferten historischen Werke an sich, sondern unser Umgang mit ihnen sowie diese nur schwer zu verstehende zwanghafte Fixierung auf Musik der Vergangenheit. Es scheint zuweilen so, als wäre unsere lange Zeit so überaus vitale Musikkultur mit ihrer einzigartigen, Jahrhunderte andauernden Entwicklungsdynamik, Wandlungsfähigkeit und künstlerischen Innovationslust irgendwann gegen Ende des 19. Jahrhunderts einfach stehengeblieben und in quasi eingefrorenem Zustand über die Zeit bis heute konserviert worden. Alle zu diesem Zeitpunkt bestehenden Teile des Musiklebens – Werke, Ausbildungsinstitutionen, Rezeptionsformen, ästhetische Prämissen und pädagogische Traditionen – sind dabei zu jenem Phänomen geronnen, das wir heute ehrfurchtsvoll als unser musikalisches Erbe bezeichnen. Ein Erbe, das wir mithilfe der öffentlichen Hand hegen und pflegen, indem wir Musikschulen und Musikhochschulen unterhalten, historische Schlüsselwerke immer wieder live aufführen bzw. InstrumentalschülerInnen zum Üben aufgeben, didaktisch versierte Musikvermittlung betreiben und bei alldem als Agenten eines schwer dingfest zu machenden, aber der klassischen Musik scheinbar eingeschriebenen konservativen Wertekanons fungieren (Stichworte: Disziplin, Fleiß und Genauigkeit).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2015.