Kreutz, Gunter

Warum Singen glücklich macht

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Psychosozial-Verlag, Gießen 2014
erschienen in: üben & musizieren 1/2015 , Seite 49

Zwei Veröffentlichungen, in denen es intensiv um die Frage geht, welches Potenzial in der Tätigkeit des Singens liegt, um Wohlbefinden und sogar Glücksgefühle auszulösen: Die eine ist ein quasi handlungsorientiertes „Vademekum“, die andere eine theoretische Grundlegung durch Zusammenstellung wissenschaft­licher Erkenntnisse, die belastbar sind und über bloße intuitive Spekulation hinausgehen.
Michael Betzner-Brandts kleine Schrift, ansprechend und vielseitig im Layout, mit zahlreichen atmosphärischen Fotos und poetischen Zitaten aufbereitet, müsste die Probe aufs Exempel bestehen, ob sich aus einem Buch und einem Tonträger ein Sing­gefühl und eine Singmotivation generieren lässt, die auch ohne den Hintergrund einer Chorgemeinschaft Tragfähigkeit hat. Die praktische Chorarbeit des Autors ist schon längere Zeit in aller Munde und nicht zuletzt mit seinem „Ich-kann-nicht singen-Chor“ hat er eine überzeugende und animierende Plattform geschaffen, um Menschen unterschiedlichster Herkunft und weitgehend ohne musikalische Vorbildung zum gemeinsamen Singen zu führen.
Das Buch stellt sich so verstanden als eine Summe dieser praktischen Arbeit dar und man kann sich aus Diktion und den methodischen „Tipps und Tricks“ recht gut vorstellen, wie inspirierend die chorleiterischen Fähigkeiten in der lebendigen musikalischen Kommunikation ihre Wirkung entfalten. Erklärte Absicht des Buchs ist es, dem Leser (besser Nutzer) „konkrete Übungen, weiterführende Ideen und Songs an die Hand zu geben“, sodass er „im Alltag, zu Hause, im Auto, im Zug oder auf dem Fahrrad“ mit seiner „Stimme in Kontakt kommen und singen“ kann.
Im weiteren Verlauf des Buchs wird man dann in der Tat auf Entdeckungsreise geschickt und in Praxisphasen und Hintergrunderläuterungen immer mehr mit seiner eigenen Stimme in Kontakt gebracht. Die beigefügte CD liefert klingendes Material zum Mit- und Nachmachen von Übungen und kleinen vokalen Improvisationen.
Diese Entdeckungsreise sollte jeder selbst antreten, auch wenn er sich bislang als Nichtsänger fühlt. Aber auch praktizierenden ChorleiterInnen gibt das Buch bestimmt die eine oder andere Anregung, die Probenarbeit aufzulockern oder durch viele fantasievolle Übungsideen zu bereichern. Ob einige Intonationstrübungen der Choreinspielungen beabsichtigt sind, um den Charakter des „Nicht-Professionellen“ zu verstärken, darf als kleine Frage offen bleiben.
Diesem praktischen Leitfaden gesellt sich eine weitere Ver­öffentlichung hinzu, die jedoch eher für professionelle SingleiterInnen oder Studierende eine willkommene didaktische Zusammenschau sein dürfte. Gunter Kreutz, Professor für systematische Musikwissenschaft an der Universität Oldenburg, hat sich der (längst fälligen) Aufgabe gewidmet, die in den vergangenen rund 15 Jahren vehement angewachsene wissenschaftliche Literatur zum Thema Singen als einem anthropologischen Phänomen mit seinen zahlreichen Facetten, zu sichten und zu wesentlichen Aussagen zu bündeln.
Hierbei reicht die Palette von allgemeinen einleitenden Aussagen zu spezielleren Untersuchungen über den neurophysiologischen Prozess, der sich beim Lernen, Speichern und Abrufen von Liedern vollzieht und besonders auch den Aspekt des Singens mit Kindern berücksichtigt. Letzteres unter Bezug auf die besonders produktiven Entwicklungsperioden des Säuglings-, Kindergarten- und Grundschul­alters.
Auch der rein medizinische Aspekt wird tangiert und zeigt den weitgefassten Wirkungsradius einer regelmäßigen Stimmpflege auf den gesamten Körper und das Zusammenspiel von Organen. Damit verbunden sind natürlich auch musiktherapeutische Ansätze, die ebenfalls Thema des Buchs sind. Auch der besonders durch die langjährige und immer noch nachwirkende Adorno-Debatte um den ideologisierenden Einfluss des Singens in Großgruppen und die Gefahr der Massensuggestion wichtige Aspekt wird nicht ausgespart und unter dem Titel „Singen und Gewalt“ in die Gesamtschau des Themas einbezogen.
Mit großem Interesse wird man das Literaturverzeichnis durchforsten, das die fast endlos zu nennenden kleineren und größeren Aufsätze aus fachspezifischen Einzelforschungen zum Thema in einer bemerkenswerten Fülle zusammenstellt. Viele dieser sonst eher schwer zu erreichenden Artikel werden durch Angabe von Internet-Quellen über das DOI-Portal leichter zugänglich gemacht. Das wird vor allem Studierenden eine große Hilfe sein.
So sind diese beiden Bücher ein weiterer Baustein auf dem Weg zu einer noch wiederzuentdeckenden Alltagskultur des Singens bzw. weiterer Anstoß zu einer längst fälligen Diskussion über den Stellenwert des Singens in Kindergarten und Schule – vielleicht sogar wieder als eigentliche Grundlage jeder nachhaltigen, auf Erfahrung gründenden Musikerziehung. Auch, wenn Singen vielleicht nicht das „Glückselixier“ schlechthin ist, wie es beide Veröffentlichungen in Titel und Untertitel andeuten, ist es doch ein signifikantes Kennzeichen des Menschlichen, ein echtes „Humanum“, das prägenden Einfluss auf die gesunde Entwicklung eines jeden Individuums hat und sicherlich zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit in guter Balance zwischen Leib und Seele Unverzichtbares beiträgt.
Thomas Holland-Moritz