Hoos de Jokisch, Barbara

Singen im Aufwind

Über die Wiederentdeckung des Singens im 21. Jahrhundert

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2014 , Seite 06

Am Ende des 20. Jahrhunderts schien das Singen aus Schule und Familie ­weitgehend verbannt. Doch in den vergangenen Jahren hat sich die Situation offensichtlich grundlegend geändert: Nun kann sogar von einer regelrechten Renaissance des Singens zu Beginn des 21. Jahrhunderts gesprochen werden. Barbara Hoos de Jokisch hat den neuen positiven Trend mitverfolgt.

Singen ist eine Tätigkeit, die den Menschen körperlich, seelisch und geistig fordert und auf jeder dieser Seinsebenen zu Höchstleistungen anspornen kann. Dass Körper, Seele und Geist beim Singen gleichzeitig beansprucht werden, vertieft das Erleben zusätzlich. Der Synergieeffekt macht sich beim Singenden nicht nur in einer spürbaren Steigerung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens bemerkbar, sondern er bewirkt ­darüber hinaus als geistige Erfahrung eine glückhafte Selbstbestätigung des ganzen Menschen: Ich singe, (al)so bin ich. Singen ist ein Akt der Selbstvergewisserung für den Singenden1 – an dem auch der Hörende teilhat, denn seine Stimmorgane werden dabei nachweislich zum sympathischen Mitschwingen angeregt und sogar mitgeprägt.2 Hiermit kann einerseits der Genuss beim Hören einer schönen Singstimme erklärt, andererseits jedoch auch die Verantwortung bewusst gemacht werden, die GesangspädagogInnen, aber auch Erzieherinnen und Lehrkräfte beim Umgang mit ihrer Sprech- und Singstimme hinsichtlich ihrer SchülerInnen haben.
Auf diese Grundvoraussetzung baute mein Artikel „Verlust der Stimme – Verlust des Körpers?“3 auf, in dem ich 2003 den Tiefstand4 zu ergründen suchte, den das Singen kurz nach Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland offensichtlich erreicht hatte. Für das Singen sind sowohl eine seelische als auch eine körperliche Singbereitschaft unabdingbar – ohne psychische und physische Disposition ist lust- und klangvolles Singen und Tönen nicht möglich. Zwei Hauptursachen scheinen für das vielerorts erlebbare Verstummen der Singstimme verantwortlich zu sein: die besonderen historischen Umstände in Deutschland und die allgemeinen Folgen der zivilisatorischen Entwicklung weltweit. So hatte der ideologische Missbrauch des Singens während der Zeit der Nazi-Diktatur in später Folge dazu geführt, dass das Singen in den 1970er und 1980er Jahren hier­zulande weitgehend aus Musikunterricht und Schule verbannt wurde.5 Die betroffene Schü­lergeneration konnte deshalb als Eltern und Lehrer nur auf wenige Erfahrungen mit der ­eigenen Singstimme zurückgreifen, in den Familien wurde kaum noch gesungen, das gemeinsame Kinder- und Volksliedrepertoire war nahezu verschwunden.
Zu dieser motivationslähmenden Ursache kommt fatalerweise die Entwicklung unserer westlichen Lebensweise hinzu, die durch zunehmend abstrakte Tätigkeiten den selbstverständlichen Bezug zum eigenen Körper ge­schwächt hat. So wird der Verlust der für die Phonation notwendigen Körperspannung bereits bei der Sprechstimme in einer Häufung von Stimmstörungen und -erkrankungen of­fen­kundig. Gleich von zwei Seiten wird also dem Singen die Grundlage entzogen. Kann ei­ne sol­che drastische Entwicklung überhaupt auf­ge­hal­ten, gar rückgängig gemacht werden?

1 s. hierzu auch Arno Ros: „Unmittelbares Selbstbewusstsein: Woraus es besteht und wie es sich entwi­ckelt haben kann“, in: E-journal Philosophie der Psycho­logie, Nr. 13, 2009, www.jp.philo.at/texte/RosA2.pdf (Stand: 6.2.2014).
2 Dieses Phänomen ist seit den 1920er Jahren durch Forschungen an der Berliner Charité bekannt und wird in jüngster Zeit durch die Aktivität der Spiegelneurone erklärt; s. Max Nadoleczny: Untersuchungen über den Kunstgesang, Berlin 1923, und Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Hamburg 52005. Die Imitation als methodisches Element in der Stimmausbildung bezieht von alters her die Tatsache ein, dass die Stimmorgane des Gesangsschülers nicht zuletzt auch durch das Hören der Lehrerstimme entscheidend mitgeprägt werden.
3 Barbara Hoos de Jokisch: „Verlust der Stimme – Verlust des Körpers?“, in: üben & musizieren 3/2003, S. 6-13.
4 Ulrich Mahlert: „(Un)kulturen des Singens“, in: üben & musizieren 3/2003, S. 1.
5 s. üben & musizieren 3/2003: Hoos de Jokisch, S. 9, Sp. 2, Stadler-Elmer, S. 28, Sp. 1 ff., Eicker, S. 45, Sp. 2.

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