Rihm, Wolfgang

Sechs Preludes

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition, Wien 2013
erschienen in: üben & musizieren 2/2014 , Seite 59

Wenn Komponisten sich auf breiter Front durchgesetzt haben und im Licht der Öffentlichkeit stehen, richtet sich das Rezep­tionsinteresse nicht mehr nur auf die Arbeiten der Reifejahre. Die Neugier gilt dann ebenso den Jugendwerken, um nachzuspüren, ob sich in den manchmal noch ungelenken und unfreien ersten Versuchen nicht bereits Spuren der späteren meisterlichen Handschrift entdecken lassen.
Was Wolfgang Rihm betrifft, so gab es in letzter Zeit mehrfach Initiativen, die sich um sein Frühwerk für Tasteninstrumente bemühten: Im Rahmen von umfassenderen Einspielungen erschienen Klavier- und Orgelwerke Rihms aus den 1960er Jahren auf CD, eingespielt durch Udo Falkner (2009) bzw. Dominik Sus­teck (2009). Hinzu kommen einige Druckveröffentlichungen, denen sich nun eine Publikation jener Sechs Preludes anschließt, die Rihm 1967 als knapp Fünfzehnjähriger komponierte. Beide Tasteninstrumente waren für ihn der nahe liegende, weil praktisch erreichbare Ausgangspunkt für sein Schaffen: „Vor 1970 entstand nun wirklich sehr, sehr viel fürs Klavier, wohl auch, weil ich das Instrument auf diesem Umweg mir aneignete, mir beweisen wollte, dass ich es auch mit dem großen Sarg kann“, heißt es in einer Selbstauskunft des Komponisten.
Die im Rahmen dieser Eroberung des „großen Sargs“ geschriebenen Preludes spiegeln in Titel wie Faktur die Erfahrungen des jungen Rihm im eher konservativ geprägten Musikleben seiner Heimatstadt Karlsruhe wider. Der Klaviersatz der Stücke steht in klassisch-romantischer Tradition und verzichtet auf Kunststücke mit komplizierten Metren, Clustern und Klangverfremdungen, von aleatorischen Momenten oder grafischer Notation ganz zu schweigen. Wo satztechnisch, zumal in den Begleitmodellen der linken Hand, eine gewisse Naivität herrscht, da verrät Rihms eigenwillig gehandhabte, die zugrunde liegende Tonalität entgrenzende Harmonik bereits individuelle Züge, etwa im ersten Stück, das sein anfäng­liches Zentrum d in den wuchtigen Bassoktaven aus den Augen zu verlieren beginnt und dann, in kontrastierenden „Langsam“-Teilen, nach e gravitiert. Die bewegten bogenförmigen Sextolen­figuren der Rechten werden in der Schlussnummer, zu Zweiunddreißigsteln gemodelt, in ihrem Bewegungstyp wieder aufgegriffen: Der jugendliche Komponist war sich der herkömm­lichen zyk­lischen Idee wohl bewusst.
Eine gewisse Starre fällt auf, in der die einzelnen Einfälle verharren; als Gegenmittel fügt Rihm die Nummern oft patchworkartig aus kontrastierenden, deutlich im Tempo voneinander abgesetzten Teilen zusammen, abgesehen von der Nr. 5, einem Andante con moto, und der Nr. 4, einer secco daherkommenden Walzerparodie. Größeren pianistischen Anspruch in dieser Folge von Charakterstücken erheben allenfalls das Presto der bizarren Nr. 3 und der weitgriffige, pompöse Schluss im dreifachen Fortissimo, der ein wenig an die Kraftattitüden Rachmaninows er­innert.
Gerhard Dietel