Valentin, Antje

2053

Vision von einer musikinspirierten Gesellschaft

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2013 , Seite 44

Was passiert mit unserer Gesell­schaft, wenn sich Programme wie “Jedem Kind ein Instrument”, “Jedem Kind seine Stimme” und ähnliche Ansätze wirklich verankern und überall selbstverständlich geworden sind? Wie sieht es bei uns mit der Bildung aus, wenn diese und andere Programme eine Wirkung für jedes Kind entfaltet haben, diese Kinder erwachsen geworden und ihrerseits in allen Bereichen der Gesellschaft tätig sind? Hier eine mögliche Vision für das Jahr 2053.

In 40 Jahren ist die kulturelle Bildung in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen eine selbstverständliche Größe geworden. In der Wirtschaft, der Politik und der Verwaltung der nachindustriellen Informationsgesellschaft steht außer Frage, dass die Hauptressourcen für ein funktionierendes Gemeinwesen und ein sinnerfülltes Leben das Wissen und die Kreativität jedes Einzelnen sind. Diese Ressourcen, darüber ist man sich gewiss, lassen sich nur heben, wenn die Fähigkeit entwickelt wird, miteinander auf effektive Weise in kreativen Teams zu interagieren.1 Denn die Produktivität ist dann am höchsten, wenn mehrere kreative Leute mit großem Wissen auf hohem Niveau kommunizieren können. Es ist deutlich geworden, dass dies besonders gut funktioniert, wenn auch die Fähigkeit zur nonverbalen Kommunikation beim lustvollen gemeinsamen Musizieren, Improvisieren und kreativem Tanzen entwickelt wird.

JeKi und seine Nachfolgemaßnahmen laufen an manchen Musikschulen nun schon 45 Jahre, sie sind inzwischen selbstverständlich.

Nachdem gesamtgesellschaftlich immer mehr Menschen in den Burn-out gewandert sind, muss die Wirtschaft aufgrund des akuten Arbeitskräftemangels dringend neue Maßnahmen ergreifen. Um die kostbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeitsfähig zu halten und ihre Kreativität und Lebenslust wieder ins Lot zu bringen, ist gemeinsames Musizieren oder Tanzen in den Arbeitsteams im Jahr 2053 selbstverständlich. Wichtige Ratgeber hierfür sind die Musik- und Kunstschulen geworden, die von Unternehmen als Premiumpartner engagiert werden.
Trommelgruppen, Chöre, Improvisationsensembles, Rockbands, Bewegungsimprovisation – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Unternehmen haben immer mehr Fantasie entwickelt, welche Ausrichtungen sie ausprobieren möchten. Das hatte ganz klein begonnen: Immer nach der Mittagspause gab es Angebote zum gemeinsamen Singen, Bodypercussion oder Tanz, anfangs angeleitet durch Lehrkräfte der örtlichen Musikschulen, später durch entsprechend geschulte Mitarbeiter der Unternehmen. Auch wenn die Betriebsräte es sehr kritisch sahen, dass die Arbeitszeit für diese täglichen zwanzig Minuten zur einen Hälfte von der Arbeitszeit abgehen und zur anderen Hälfte durch Freizeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgebracht werden muss, fand das Modell doch nach kurzer Zeit großen Anklang.

Produktivität dank Musik

Wie so oft hat auch die öffentliche Verwaltung rasch dieses Modell der Mitarbeiterentwicklung übernommen und gemeinsam mit der Musikschule einen Programmbereich gegründet, in dem die Fachleute immer wieder neue Modelle und Anregungen für das Musizieren und Tanzen in gesellschaftlichen Zusammenhängen entwerfen. Es hat sich erwiesen, dass sich die Sitzungszeiten der Parlamente und Ausschüsse dramatisch verkürzen, wenn sie sich mit musikalischen oder bewegungsorientierten Shortcuts – also kurzen Auszeiten – erfrischen. Nachdem es in den ersten Jahren für die älteren Sitzungsteilnehmerinnen und -teilnehmer oft peinlich gewesen war, reicht es nun, im Jahr 2053, dass die jeweilige Sitzungsleiterin oder der Sitzungsleiter ganz selbstverständlich an bestimmten Punkten „Auszeit“ rufen und mit einer musikalischen Aktion wie zum Beispiel einer Trommelrunde auf den Tischen oder einer Bewegungs- oder Stimmimprovisation beginnen, an der jeder nach Lust und Laune teilnehmen kann.
Unternehmen haben schon vor Jahren große Anteile der Finanzierung der Musik- und Kunstschule übernommen, als sie merkten, dass ihre Angestellten zunehmend positiv auf dieses Angebot reagieren. Inzwischen gibt es sogar Baustellen, von denen in der Frühstückspause stomp-ähnliche Musik herüber schallt – ganz zur Freude der benachbarten Büros. Neuartige Konzertformen wie Improvisa­tionskonzerte in Werkhallen unter Mitwirkung der Belegschaft lassen die Wertschätzung für künstlerische Leistungen jenseits gewohnter Konzertformate steigen. Die Neugier derer, die bisher klassischen Konzerten fern geblieben sind, erhöht sich.
Die Digitalisierung aller Lebensbereiche führt zu einer starken Sehnsucht nach Kunsterlebnissen, die im echten Leben und live stattfinden. Das fachkundige Publikum genießt es ganz offensichtlich, wenn wieder einmal außergewöhnliche Aufführungen oder Inszenierungen geboten werden. Besonders schwer ist es Karten zu erhalten, wenn aus der ört­lichen Musikschule stammende, inzwischen weltweit erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler auftreten. Am beliebtesten sind Produktionen, an denen sich das Publikum aktiv beteiligen kann.

1 siehe auch Eric Händeler: Die Geschichte der Zukunft, Moers 2007, S. 9: „Erst eine neue Kultur der Zusammenarbeit lässt in der Informationsgesellschaft den Wohlstand wieder steigen.“

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2013.