Cerha, Friedrich

Für Marino (gestörte Meditation)

für Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition, Wien 2011
erschienen in: üben & musizieren 1/2013 , Seite 62

Im Schaffen des Ernst-von-Siemens-Preisträgers Friedrich Cerha (geboren 1926) nimmt die Klaviermusik keinen zentralen Platz ein, hat ihn aber trotzdem sein ganzes Leben hindurch bis heute – oder jedenfalls bis zu seinem 84. Lebensjahr, dem Entstehungsjahr der vorliegenden Komposi­tion – immer wieder beschäftigt. Einen großen Teil davon bilden kleinere Stücke, die teilweise für familiäre Zwecke geschrieben wurden.
Für Marino aus dem Jahr 2010 ist keine Miniatur, es dauert immerhin eine knappe Viertelstunde, was allerdings vor allem an dem ungewöhnlich langsamen Tempo der meditativen Teile liegt (Viertel = 36). Siebenmal wechseln meditative Abschnitte mit den „Störungen“, bis am Ende, nachdem die Störungen immer fragmentarischer wurden, noch einmal meditative Stimmung das Stück zum Verklingen bringt.
Dieses Kontrastprinzip erstreckt sich auf viele Parameter: Die Störungsteile sind fast viermal so schnell wie die Meditationen, wenn man die Metronomisierung zugrunde legt (Viertel = 138), wobei der stürmische Charakter noch durch die kürzeren Notenwerte in den Passagen unterstrichen wird; die meditativen Teile werden jeweils von einem einzigen Pedal zusammengehalten, während sonst kein Pedal notiert ist. Natürlich ist auch die Dynamik entsprechend abgestuft – in den Meditationsteilen zwischen p und pppp, in den schnellen Abschnitten zwischen p und ff.
Rhythmus und Artikulation unterscheiden sich ebenfalls prinzipiell: Die Störungsteile sind rhythmisch vielgestaltiger, häufig synkopiert und mit mehr Staccatoklängen und einem zumindest teilweise viel kompakteren Klaviersatz versehen. Auch in den Meditationsteilen gibt es Synkopierungen, die aber wegen des sehr langsamen Tempos viel weniger Unruhe erzeugen. Bemerkenswert ist, dass die langsamen Abschnitte trotz des langen Pedals immer klar und durchhörbar bleiben.
Die Störungsteile, die anfangs noch komplett gegensätzlich im Charakter sind, nähern sich bei ihrem späteren Auftreten in den Schlusstakten durch ruhigere Notenwerte und eine reduzierte Dynamik dem Charakter der ­Meditationen etwas an. In den ­Meditationsteilen wiederum hat man das Gefühl, dass einzelne motivische Bausteine aus den schnellen Teilen aufgegriffen werden und in veränderter Form quasi nachklingen.
Der Text ist sehr sorgfältig gearbeitet. Besonders in den langsamen Teilen fällt auf, mit welcher Genauigkeit der Komponist das dynamische Verhältnis zwischen den Tönen bezeichnet und dabei  das Verklingen jedes einzelnen Tons in den verschiedenen, teilweise weit auseinander liegenden Registern für den Gesamtklang einkalkuliert hat.
Die Ausgabe bietet ein sehr klares Notenbild, Fingersätze wurden nicht erstellt. Insgesamt erfordert das Stück einen Spieler oder eine Spielerin mit differenzierter Anschlagstechnik, ist dann aber gut spielbar und auf jeden Fall eine Bereicherung des zeitgenössischen Repertoires.
Linde Großmann