Vereno, Klemens

Auf der Suche nach dem Making-of

Analyse als Bereicherung des ­Instrumentalunterrichts

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2012 , Seite 18

Analyse – ein Wort, das für viele irgendwo zwischen Langeweile und Alptraum angesiedelt ist. Da werden Musikstücke zu Schlangen von Buchstaben, die fatal an chemische oder mathematische Formeln erinnern: A – A1 – B – B1 – B2 – C – A2 – C1 – D… Soll man dafür Zeit aufwenden angesichts immer knapper werdender Ressourcen in der Musikausbil­dung? Nein – natürlich nicht! Aber solch schematische – boshaft zugespitzte – Analyse meint ja nur einen kleinen Aspekt eines Musikstücks.

Das wunderbare Wesen der Musik macht aus, nahezu alle sicht- und unsichtbaren Bereiche des Lebens zu begleiten, zu durchdringen, zu deuten, zu überhöhen, zu intensivieren, zu symbolisieren, abzubilden und zu verzaubern. Es gibt so vielfältige Fragen, die man an ein Werk stellen kann: an seine Form, seine Struktur, seine Entstehung, seinen emotionalen, bildlichen oder deskriptiven Gehalt, seine Individualität, seine Zeitgebundenheit, seine gesellschaftliche Rolle, sein Verhältnis zu anderen Künsten, seine Nachwirkungen, sein Geheimnis… Fragen, die nicht so sehr auf eine „richtige“ Antwort zielen, sondern auf das Nachdenken, auf Sensibilisierung, auf Neugier, auf genaues Hin­hören und Hinsehen, auf das Entdecken von Entsprechungen innerhalb und außerhalb der Musik.
Immer wieder hört man: „Das muss ich alles nicht wissen, ich möchte doch nur schöne Musik machen bzw. hören.“ Natürlich muss man nicht – aber man darf! Und man darf sich dann freuen, dass man mehr und intensiver hört, weil man nun auch Mittelstimmen wahrnimmt, bisher überhörte Harmoniewendungen als berührende Momente empfindet, Tonfiguren, deren affektive Bedeutungen erklärt wurden, nun als Sinnträgerinnen hört. Man freut sich, dass man durch wachsendes musikalisches Verständnis auch auf dem Inst­rument sicherer, lockerer, zugleich aber auch konzentrierter geworden ist; man spürt: Wissen und Fühlen, Erfahren und Erleben sind keine Widersprüche, bedingen einander vielmehr.
Und ist uns dieses Ineinander nicht vertraut? Blicken wir nicht gerne in die Werkstatt, hinter die Kulissen oder auf den Bauplan? Wir schauen uns das Making-of eines Films an und sind dann trotzdem im Kino erschüttert, gebannt, gerührt. Wir fragen nach dem Rezept, wenn das Essen geschmeckt hat, wir stehen überwältigt auf dem Gipfel und versuchen dennoch, die Berge ringsum zu benennen, wir betreten mit gleichermaßen ästhe­tischer wie technischer Bewunderung eine Kathedrale, erleben die Freude an der Natur – und fragen trotzdem: welche Blume, welcher Vogel, welches Sternbild? (Allerdings sagt kaum jemand: Ich mache eine Analyse des Rundblicks, der Vogelstimmen, des Nacht­himmels…)
Zwischendurch eine Bitte an die LeserInnen: Nehmen Sie Vergleiche (sie hinken, aber sie bewegen sich immerhin), Bilder, Umschreibungen als Mitteilungs- und Veranschau­li­chungsversuche, ohne sich an partiellen Unstimmigkeiten zu stören, die sicher leicht nachzuweisen wären.

Analyse in Musikschule und Privatunterricht

Wenn wir nun überlegen, ob und wie analytische Fragen im Instrumental- bzw. Gesangsunterricht hilfreich und sinnvoll integriert werden können, so wollen wir uns vor allem an den Gegebenheiten in der Musikschule orientieren, die ja vorwiegend der Basis- bzw. Laienausbildung dient. Und hier muss gleich ein entscheidender Unterschied zur Hochschule bzw. zum Konservatorium hervorgehoben werden: Während die Studierenden in der Hochschule die ganze Woche getragen, angeregt, gefordert werden von einem Team von Lehrenden und Mitstudierenden, im Chor, in Ensembles, im Orchester mitwirken, eine Bibliothek nutzen, Konzerte, Ausstellungen, Gastkurse besuchen können, wird ein Schüler oder eine Schülerin an der Musikschule oder im Privatunterricht im Wesentlichen von einer einzigen Lehrkraft einmal wöchentlich betreut; beide, LehrerIn und SchülerIn, sind also viel stärker auf sich allein gestellt.
So sind dort die Anforderungen an die Lehrenden keineswegs geringer als in der Profi-Ausbildung – ganz im Gegenteil: Sie müssen in viel knapperer Zeit und praktisch allein ein musikalisch-technisches Rüstzeug vermitteln, das entweder zur weiterführenden Ausbildung befähigt oder aber ein musikalisch erfülltes Leben als Laie ermöglicht. So können sie entscheidenden Einfluss darauf haben, ob ein junger Mensch der Musik zugetan bleibt; sie tragen wesentlich bei zur Formung der musikalischen Physiognomie von Menschen, die später – trotz anderer beruf­licher Orientierung – musikalische und kulturelle Akzente setzen, Entscheidungen treffen, Lebensläufe prägen werden: als Konzertbesucher, Laienmusiker, Chorsänger, CD-Käufer, Wähler, Lehrer, Förderer, Publizisten, Politiker – vor allem aber als Eltern.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2012.