Bauer, Britta

Im Scheinwerfer der Aufmerksamkeit

Neurophysiologische Erkenntnisse zur Vereinfachung von Lernprozessen und methodische Konsequenzen für Üben und Musizieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2012 , Seite 24

Wer sich mit (Musik-)Lernen beschäftigt, muss sich mit dem Gehirn beschäftigen. Denn alle Lernprozesse finden im Gehirn statt. Das Gehirn lernt immer. Aber es lernt nicht immer gleich viel und gleich gut. Das gilt auch für den Instrumental­unterricht. Die Strukturen des Lernens sind komplex. Im Folgenden sollen sie ­zerlegt und einzeln beleuchtet werden. Denn wer sie kennt, lernt besser.

Licht an

Jede Sekunde strömen unzählige Reize aus der Umwelt auf uns ein, in der Schule, auf der Straße, im Büro. Wir nehmen die Welt um uns herum scheinbar ohne spürbare Anstrengung wahr – aber unser Gehirn vollzieht dabei Höchstleistungen. Es ist sehr aktiv damit beschäftigt, aus den eingehenden Stimuli nur diejenigen herauszufiltern, die für uns wesentlich sind.
Warum tut es das und wie geschieht das? Würden uns unentwegt alle Details des Alltags bewusst, so würde unser Kopf platzen. Eine Informationsfülle von ca. elf Millionen Bits strömt pro Sekunde auf unser Gehirn ein, wovon uns nur eine Auswahl von ca. 50 Bits ins Bewusstsein kommen. Die meisten Reize werden als „bekannt“ verbucht und sind für unser Gehirn uninteressant. Besonders ausgewählt werden Sinneseindrücke mit den Qualitäten „Neuigkeit und Bedeutsamkeit“.1 Auf sie wird dann plötzlich der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit gerichtet, wie es der amerikanische Neurowissenschaftler Michael Posner formuliert. Dieser Scheinwerferspot, um im Bild zu bleiben, hat topografisch gesehen seinen Sitz im Thalamus, einem Teil des Zwischenhirns. Er wird in der Literatur vielfach auch als „Tür zur Großhirnrinde“2 (Kortex) bezeichnet, da er eine intensive wechselseitige Faserverbindung zum Kortex aufweist.

Es kommt der filternden Funktionsweise des Thalamus entgegen, wenn wir uns beim Üben bewusst auf Einzelheiten unseres Spiels konzentrieren.

Das bedeutet, dass eine große Anzahl von Signalen, die im Kortex verarbeitet werden, erst durch den Thalamus wandern und von ihm umgeschaltet werden. Das gilt z. B. für alle Afferenzen und Efferenzen3 der Sinnesorgane. Neurophysiologisch heißt das, dass beim Eintreffen der Signale aus den Sinnesorganen genau diejenigen neuronalen Verbindungen erregt werden, die für die Verarbeitung des selektierten Ausschnitts benötigt werden. Die Größe dieses Scheinwerfers hängt dabei von dem kortikalen Areal ab, in dem der Reiz verarbeitet werden kann.4 Die selektive Aufmerksamkeit ist begrenzt und hat nur eine bestimmte Menge an informa­tions­ver­ar­bei­tender Kapazität zur Verfügung. Es gibt zudem immer nur einen Scheinwerfer der Aufmerksamkeit: Er ist nicht teilbar. Zu einer gegebenen Zeit kann immer nur ein Aspekt im Fokus des Scheinwerfers liegen.
Im Instrumentalunterricht ist diese Erkenntnis ein klares Plädoyer für das Elementarisieren, für das Beleuchten immer nur eines Aspekts beim Üben und Unterrichten. Lernstoff muss zerlegt werden. So wie man zum Herrichten eines Salats die Tomaten achtsam in einzelne mundgerechte Stückchen zerschneidet, so hilft es beim Üben und Lernen, wenn man dem komplexen Lernstoff einzelne Pers­pektiven abgewinnt und diese nacheinander beleuchtet. Dies gilt für alle Lernfelder des Unterrichts: Körperarbeit, Technik, klangliche Parameter etc. Studien haben erwiesen, dass die Richtung der Aufmerksamkeit aktiv steuerbar ist.5 Wir können willentlich Ausschnitte aus unserer Umwelt selektieren, sodass sich daran Lernereignisse entfalten können. So können wir uns z. B. darauf konzentrieren, jetzt unser Instrument zu üben. Mehr noch: Vor dem Hintergrund dieses Wissens macht insbesondere die von Gerhard Mantel geprägte Methode der „rotierenden Aufmerksamkeit“ Sinn.6 Es kommt der filternden Funktionsweise des Thalamus entgegen, wenn wir uns beim Üben bewusst auf Einzelheiten unseres Spiels konzentrieren und sagen: „Licht an!“ – für den Aspekt der Klangfarbe, der Dynamik etc.
Selektive Aufmerksamkeit beim Instrumentalspiel kann sich auf ganz unterschiedliche Facetten der Lernsitua­tion beziehen. Immer geht es aber um besondere Wahrnehmung eines fokussierten Aspekts. Hier einige Anregungen für den Unterricht:

– Körper: instrumentenspezifische Wahrnehmungsübun­gen zu Beginn des Unterrichts7
– Finger: Finger- und Fühlspiele (mit Luftballon, Knetgummi, verschiedenen Materialien)
– Hören: Klanggeschichten, Hörübungen mit geschlossenen Augen, Imitations- und Echospiele mit Fokus auf einen ausgewählten musikalischen Parameter (Klangfarbe, Dynamik, Rhythmus etc.)
– Tonqualität: Tonfolge oder einzelnen Ton mit verschiedenen Arbeitsaufträgen spielen und achten auf Vibrato, Artikulation, Dynamik, Tondauer etc.
– Konzentrationsspiele mit dem Instrument: Töne sammeln im Stil von „Ich packe in meinen Koffer…“ oder Töne reihen wie ein Domino-Spiel. Dies erfordert genaues Beobachten der Spielpartner und gezielte Aufmerksamkeit.

Spuren im Schnee

Licht an für den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit! Doch wie geht es dann weiter? ­Lernen bedeutet aus neurophysiologischer Pers­pektive, dass sich Synapsenstärken ändern. Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen. Immer wenn Impulse über Synapsen laufen – durch welches Erlebnis auch immer –, ändern sich die Synapsen. Sie werden stärker. Man kann sich das so vorstellen wie Spuren in einem frisch verschneiten Park: Wenn viele Leute durch den Tiefschnee gehen, entstehen zunächst einmal keine eindeutigen Spuren. Wenn man aber in der einen Ecke eine Glühweinbude aufstellt und in der anderen Ecke eine Toilette, so werden einige Leute von der Glühweinbude zur Toilette gehen. Nicht alle und auch nicht alle gleich. Aber wenn man am Abend von einer Anhöhe auf den leeren Park schaut, kann man sicher etwas beobachten: einen Trampelpfad von der Glühweinbude zur Toilette.8 Genau dasselbe geschieht, wenn Impulse über Synapsen laufen. Es entstehen gebrauchsabhängige Spuren. Je intensiver der Gebrauch, je öfter die Wiederholung, desto deutlicher die Spuren.
Diese Spuren sind unser Gedächtnis. Durch seinen Gebrauch ist das Gehirn einer ständigen Änderung unter­legen. Diese Wandlungsfähigkeit nennt man auch Neuro­plastizität. Lernen ist Prozessieren durch Selbstveränderung im gesamten neuronalen System. Das ist auch beim Musiklernen so. Die Speicherung von Gedächtnisinhalten im neuronalen Netzwerk erfolgt dabei nach assoziativen Prinzipien.9 Verschiedene Aspekte des gleichen Inhalts sind miteinander verbunden und bilden ein Bedeutungsfeld. In je mehr Kontexten ein Gedächtnis­inhalt parallel angelegt ist, desto tiefer ist er vernetzt und desto besser kann er assoziativ verarbeitet und später erinnert werden.

Je vielfältiger Wissensinhalte bereits abgespeichert sind, desto ­besser ist die Anschlussfähigkeit für neues ­ähnliches Wissen.

Dass es auch im Instrumentalunterricht Folgen hat, wie gelernt bzw. gelehrt wird, macht eine Studie von Wilfried Gruhn und Eckart Altenmüller deutlich:10 Drei Gruppen von SchülerInnen im Alter von 13 bis 14 Jahren wurde sechs Wochen lang Musikunterricht erteilt. Gruppe A erhielt deklarativen Unterricht, bei dem nur über Musik gesprochen, aber nicht praktiziert und gehört wurde. Gruppe B erhielt prozeduralen Unterricht; dort wurde mit allen Sinnen musiziert: gesungen, geklatscht und auf dem Instrument gespielt. Der Schwerpunkt dieser Unterrichtsmethode lag auf dem Improvisieren. Die Kont­rollgruppe C erhielt keinen Unterricht. Aufgezeichnet wurde der Versuch mit einem EEG. Bei der Abschlussmessung sollten die SchülerInnen im Hörtest offene und geschlossene Phrasen erkennen. Hierbei unterschieden sich die gemessenen Hirnaktivitätsmuster hoch signifikant. Man konnte feststellen, dass Gruppe B, welche prozeduralen Unterricht erhielt, mit Abstand die größte Aktivierung der Kortex­oberfläche aufwies mit besonderer Aktivierung der motorischen Areale.
Auf die stoffliche Ebene übersetzt heißt das, dass die multisensorische Beschäftigung mit Musik, also mit Augen, Ohren und dem Tastsinn, zu einer Aktivierung größerer Neuronenfelder führt. Es werden mehr untereinander verzweigte synaptische Verbindungen geknüpft und es haben sich bereits Gedächtnisspuren gebildet. Daraus folgt, dass die eigene Lernbiografie immer spezifischer Ausgangspunkt für weiteres Musiklernen ist. Denn je vielfältiger Wissensinhalte bereits abgespeichert sind, desto besser ist die Anschlussfähigkeit für neues ähnliches Wissen.11 Heruntergebrochen auf die Lernsitua­tion am Instrument bedeutet dies, dass die durch den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit selektierten Aspekte des Übens möglichst vielfältig vernetzt werden sollten: mit allen Sinnen lernen, verschiedenartig an ein Stück herangehen, einzelne Parameter bewusst üben und in möglichst viele Kontexte übertragen. Und hier wieder einige Anregungen für den Unterricht:

Üben mit allen Sinnen
– Den SchülerInnen ein Stück vorspielen und sie mitzeigen, mitsingen, mitklatschen, mittanzen lassen.
– Rhythmus mit einem Satz oder Vers unterlegen.
– Die Aufmerksamkeit des Schülers oder der Schülerin beim Üben nacheinander auf verschiedene Teile seines bzw. ihres Körpers lenken. Es reicht alleine schon der Hinweis darauf aus zu erspüren, wie sich der große Zeh oder der kleine Finger anfühlt beim Spiel, um eine Erweiterung von Verknüpfungen zu erreichen.
– Üben mit absichtlich untypischen Körperbewegungen: auf einem Bein stehen, aus der Hocke aufrichten oder beim Spielen durch den Raum gehen, auch rückwärts.
– Anleihen aus der Kinesiologie zur besseren Vernetzung und Integration der beiden Gehirnhälften: Alle Überkreuzübungen sind hier zu empfehlen. Eine der einfachsten Übungen ist, beim Spielen kreuzweise auf der Stelle zu gehen oder durch den Raum zu wandern. Bei nicht transportablen Instrumenten empfiehlt sich beim Spielen mit den Augen eine liegende Acht nachzuzeichnen.12
– Üben in einer anderen Umgebung mit neuen visuellen und akustischen Reizen, z. B. Outdoor-Unterricht.
– Daheim zur Abwechslung den Raumklang im Keller, im Bad oder in der Garage ausprobieren. Das kann sehr ins­pirierend sein!
– Bei schweren Stellen im langsamen Tempo die Aufmerksamkeit auf Klang oder Atem richten, nicht auf die gefürchtete schwere Griffverbindung.

1 Manfred Spitzer: Nervenkitzel. Neue Geschichten vom Gehirn, Frankfurt am Main 2006.
2 Martin Trepel: Neuroanatomie, München 2004, S. 171.
3 Afferenzen sind Bahnen, die Informationen aus der Peripherie des Körpers herbeiführen; Efferenzen hingegen sind Leitungsbahnen, die Informationen wieder in die Peripherie transportieren.
4 Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des ­Lebens, Heidelberg 2002, S. 143.
5 Mario Beauregard/Johanne Lévesque/Pierre Bourgouin: „Neural correlates of conscious self-regulation of emotion“, in: The Journal of Neuroscience, Jg. 21, Nr. 165 (2001), S. 1-6.
6 Gerhard Mantel: Einfach üben. 185 unübliche Übe­rezepte für Instrumentalisten, Mainz 2001, S. 24 ff.
7 Eine sehr empfehlenswerte Sammlung instrumentenspezifischer Körperübungen ist: Alexandra Türk-Espitalier/Ulla Udluft: Musiker in Bewegung: 100 Übungen mit und ohne Instrument, Frankfurt am Main 2008.
8 Beispiel entliehen aus: Manfred Spitzer: Mozarts Geis­tesblitze. Wie unser Gehirn Musik verarbeitet, CD, Etsdorf am Kamp 2006, Kapitel 2.
9 Wolf Singer/Matthieu Ricard: Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog, Frankfurt am Main 2008, S. 93.
10 Eckart Altenmüller et al: „Musiclearning produces changes in the brain activation patterns. A longitudinal DC EEG study“, in: International Journal of Arts Medicine, vol. 5, Nr. 1 (1997), S. 28-33.
11 Gerhard Roth: „Erklärungssätze aus Lernpsychologie und Hirnforschung“, in: Ralf Caspary (Hg.): Lernen und Gehirn, Freiburg 2010.
12 weitere Übungen in: Isa Grüber: Praxisbuch Kinesiologie, München 2007.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2012.