Hollmann, Christina

Müssen Frauen anders sein?

Gespräch mit der Jazzpianistin Julia Hülsmann über Frauen im Jazz und die starre Trennung von Klassik und Jazz in der Instrumentalausbildung

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 6/2012 , Seite 44

Julia Hülsmann ist Pianistin, Komponistin und seit Anfang2012 Vorsitzende der Union Deutscher Jazzmusiker. Die gebürtige Bonnerin lebt seit 1991 in Berlin, wo sie an derdamaligen Hochschule der Künste Jazz-Piano studiert hat. Sie ist seit vielen Jahren national und international tätig und veröffentlichte zahlreiche CDs. Seit Oktober 2008 ist sie beim Label ECM unter Vertrag. Julia Hülsmann unterrichtet an der Hochschule für Musik und Theater Hannover Songwriting/Komposition und Jazzklavier sowie an der Universität der Künste Berlin im Fachbereich Schulmusik Klavier (Jazz/Rock/Pop) und Schulpraktisches Klavierspiel.Christina Hollmann traf die Jazzpianistin an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen, wosie als musikpädagogische Leiterin von „Young Women For Jazz“ zu Gast war, ein Förderprojekt, das renommierteProfi-Jazzerinnen und Nachwuchsmusikerinnen miteinanderin kreativen Austausch und Kontakt bringt.

„Eigentlich war mir gar nicht bewusst, dass wir ausschließlich Mädchen waren.“ So äußerte sich in der Schlussrunde von „Young Women For Jazz“ eine der jungen Jazzerinnen. Das klingt fast so, als sei das eben ins Leben gerufene Förderprojekt gar nicht notwendig. Wie steht es um die Frauen im Jazz?

Dies ist eine Frage, mit der ich mich immer wieder und schon sehr lange beschäftige. Und ehrlich gesagt hatte ich zwischenzeitlich geradezu eine Abwehrhaltung eingenommen – nach dem Motto: Dieses Thema hat sich doch eigentlich langst erledigt. Aber dem ist natürlich nicht so. Zu meiner Studienzeit gab es in meinem Umfeld lediglich eine Saxofonistin und ansonsten Jazz- Sangerinnen. Inzwischen hat sich die Zahl der Studentinnen im Fachbereich Jazz zwar erhöht, aber dennoch: Profi-Jazz ist auch im 21. Jahrhundert männlich. Der Anteil der Berufsjazzerinnen liegt aktuell im einstelligen Prozentbereich.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Fördermaßnahmen der Länder und des Bundes?

Europa und besonders Deutschland haben eine hervorragende Infrastruktur der musikalischen Nachwuchsförderung, die weltweit Anerkennung findet und beispielgebend wirkt. Die Erstsemesterzahlen der Jazz studiengange zeigen – mitunter als einzige aller Studiengänge – steigende Tendenz, was nicht zuletzt auf die hierzulande sehr nachhaltig wirkenden und erfolgreichen Forderungen zurückzuführen ist. Die Landesjugendjazzorchester, die Bundesbegegnungen „Jugend jazzt“ und naturlich das Bundesjugendjazzorchester haben fur den Jazznachwuchs in qualitativer und quantitativer Hinsicht eine enorme Bedeutung. Von hier gingen und gehen wichtige Impulse fur die Entwicklung der Jazz-Szene aus. Die Zahl der weiblichen Mitglieder in den Forderensembles ist in den vergangenen Jahren gewachsen und diese jazzenden Mädchen übernehmen wiederum eine wichtige Vorbildfunktion. Es passiert also etwas – ganz eindeutig – und es gibt bei allen Instrumenten mehr Frauen im Jazz. Das ist eine wunderbare Entwicklung, wenngleich die bestehende geschlechterspezifische Präferenz damit noch nicht aufgehoben werden konnte. Dies ist ein allmählicher Prozess, der Zeit braucht und den wir mit diesem bundesweiten Projekt unterstutzen wollen.

In den Big Bands an Schulen, Musikschulen und in Vereinen sind Madchen stark vertreten, mitunter sogar in der Uberzahl. Ihr Anteil verringert sich indes rapide, wenn es an die Hochschulen oder in den professionellen Sektor geht. Wie erklären Sie sich diese „schwarzen Löcher“, in denen die Instrumentalistinnen zu verschwinden scheinen?

Vielleicht handelt es sich weniger um „schwarze Löcher“, sondern vielmehr um Bruche in musikalischen Biografien. Man kann beobachten, dass Mädchen in Zeiten personlicher Veranderungen, in denen sie bisherige Vorlieben ablegen und neue Interessen ausbilden, sich zeitweise oder auch vollends von ihrem bisherigen Instrument abwenden. Jungen hingegen orientieren sich in dieser Phase eher um und beginnen ein neues musikalisches Kapitel: weg von der Klassik hin zu Rock/ Pop/Jazz. Ich glaube, dass das soziale Umfeld hier eine entscheidende Rolle spielt. Jungen fällt es leichter, gemeinsam mit Gleichgesinnten eine neue Richtung einzuschlagen. Da gibt es oft schon Bands oder Gruppen, an denen man andocken kann. Hier finden sie Anregung und Hilfe, hier bekommen sie die Chance, sich auszuprobieren. Wir wissen, welch hohen Stellenwert so genannte Peergroups einnehmen und wie pragend dieses Miteinander sein kann, auch auf musikalischem Gebiet. In der Phase des Sich-Findens bieten sie einen geschützten Raum. Fur Mädchen mit Interesse in Richtung Jazz bleibt es mehr oder weniger einem glücklichen Zufall uberlassen, potenziellen Mitspielerinnen uberhaupt erst zu begegnen, geschweige denn eine gemeinsame Band grunden zu konnen. Bei den Antworten auf die Frage nach den persönlichen Erwartungen an unsere Projekttage stand daher der Wunsch nach Kennenlernen, nach Begegnung, Austausch und musikalischem Miteinander mit anderen Mädchen an vorrangiger Stelle.

Was ist anders an und in diesen reinen Mädchengruppen?

Wenn Frauen – wie in unserem Projekt – in einem geschützten Raum sind, benehmen sie sich ganz anders, als wenn Männer dabei sind. Das ist den Mädchen hier gar nicht so bewusst und ich thematisiere das auch nicht. Aber ich erlebe es, bekomme es mit. In der Altersspanne von 15 bis 20 Jahren spielen das Ausloten und Ausprobieren so genannter typisch weiblicher Eigenschaften, die geschlechtliche Identitat, weibliche und mannliche Bilder sowie Verhaltensweisen eine große Rolle und prägen das Miteinander von jungen Frauen und Mannern. Auf fachlichem Gebiet äußert sich dies schnell in einem Kraftemessen, in konkurrierendem Verhalten. In den Ruckmeldungen und Gesprachen mit unseren Teilnehmerinnen kam immer wieder zutage, dass sie es genossen haben, sich hier gegenseitig nichts beweisen zu mussen. In dem Augenblick, wenn auch Jungen mit dabei sind, wird dieser Aspekt des Vergleichens, das so genannte „Weltmeistern“, zu einem bestimmenden und oftmals auch blockierenden Moment. Die Mädchen mochten abseits dieses „Schneller- Höher-Weiter“ einfach gute Musik machen. Und es wundert mich nicht, dass in reinen Mädchenbands musikalisch oft so viel mehr passiert, sie miteinander mutiger agieren als in gemischten Gruppen.

Was seine tiefen Wurzeln in einer grundsatzlich anderen Erziehung und Entwicklung von Jungen und Mädchen hat…

Ja, Jungen bekommen die Lust an Wettstreit und Wetteifern schon fruh mit, das wird bereits – auch ganz spielerisch – in Familie, Kindergarten und Schule gelegt. Mädchen verhalten sich da viel defensiver. Das ist naturlich ein großes Thema, das auch Auswirkungen auf die musikalische Entwicklung hat, auf die Vermittlung und den Unterricht. Ich habe einmal mit der Saxofonistin Angelika Niescier in Bielefeld einen Mädchenworkshop zum Thema „Frei spielen“ gemacht. Wir haben sehr viel improvisiert und assoziiert, mit inneren und auseren Bildern gearbeitet. Es war unglaublich, was alles dort aufblühte und hervorkam. In einem gemischten Zusammenhang ware eine solche Arbeit undenkbar gewesen.

In einem reinen Jungenworkshop hatte man diese Ansprache gar nicht erst gewählt?

Niemals! Die hatten uns gewiss verstört angeschaut und gesagt: „Um Gottes Willen, was wollen die denn?“ Da gibt es mit Sicherheit vollig andere Denk- und Fühlweisen.

Von der Klavierschülerin zur Jazz-Pianistin: Ihre musikalische Entwicklung ist, wie die vieler Ihrer Kolleginnen, weder auf geraden noch auf vorgezeichneten Wegen verlaufen. Welche Rolle spielen – neben den Einflüssen des sozialen Umfelds – musikalische Vorbilder und Lehrende?

Bei Instrumenten wie Klavier und Gitarre oder auch Querflöte liegen die Wurzeln in der Regel im Instrumentalunterricht mit vorwiegend klassischen Inhalten. Es ist dann aber die Frage, wie es dort weitergeht, wenn sich andere und neue musikalische Interessen bemerkbar machen. Ich habe dies selbst erfahren und erlebt: Ich hatte ungefähr fünf Jahre klassischen Klavierunterricht. Gegen Ende hat es mich immer mehr in die Moderne gezogen. Meine Lehrerin war zum Glück eine ganz offene Person, die sich auf diesem Gebiet eigentlich gar nicht auskannte. Mein Vater jedoch, der hobbymäßig sehr ambitioniert, aber eher schlecht als recht Klavier spielte, hat mit mir Noten gesucht: Hindemith und Prokofjew – eine harmonische Welt, die mich sehr angesprochen hat. Als ich dann in Friedrich Guldas Play Piano den Blues entdeckte, habe ich gemerkt: Das interessiert mich. Das ist spannend. An diesem Punkt war das Ende meines klassischen Klavierunterrichts gekommen und ich habe zunachst in Richtung Bandspiel alleine weitergemacht. Der Versuch meiner Mutter, fur mich einen Lehrer mit groserem stilistischen Spektrum zu finden, scheiterte. Ganz zufällig landete ich aber bei einem Jazz-Lehrer, einem wunderbaren alteren Herrn, der mich sehr gefordert und mit viel Energie und Leidenschaft unterrichtet hat. Mit ihm hörte ich Soli von Louis Armstrong und übertrug sie auf das Klavier. Im Prinzip damals „Unmodernes“, an dem ich unendlich viel gelernt habe – und fantastische Musik, was ich vielleicht zu diesem Zeitpunkt gar nicht zu schätzen wusste. An solchen Abbiegungen oder Kreuzungen stehen – heute wie gestern – junge Menschen immer wieder. Das sind Punkte im musikalischen Leben, an denen Lehrern oder Vorbildern eine entscheidende Rolle zukommt. Gerade in einem Alter, wo sich Interessen und Vorlieben andern, sich der musikalische Geschmack wandelt und weitet, ist es wichtig, die Jugendlichen zu begleiten. Hier von Seiten der Unterrichtenden die Kompetenzen zu entwickeln, individuell reagieren und Veränderungen musikalisch und kreativ unterstützen zu konnen, ist mehr als wünschenswert.

Das heißt, sich als Instrumental- oder Gesangslehrer stilistisch breiter aufzustellen oder gar die so genannten „stilistischen Lager“ aufzubrechen?

Unbedingt. Es gibt ja erfreulicherweise schon Überschneidungen, und die Mädchen im Projekt lassen mich dies spüren. Es gibt durchaus klassisch orientierte Klavierlehrer, die sehr umfassend unterrichten konnen und offensichtlich Bescheid wissen. Im Bereich der Musikschulen insgesamt ist dies jedoch ein zaghafter Trend. Insbesondere in der Instrumentalpädagogik scheint es noch schwierig, das Feld zu weiten – mitunter empfinde ich sogar eine gewollte Trennung. Dies alleine schon durch die an Hochschulen strenge Separierung in Fachabteilungen. Wenn wir aber wollen, dass es umfassender ausgebildete Lehrkräfte gibt, mussen wir zunachst die Berührungsängste in den Hochschulen abbauen. Relativ häufig bekomme ich „Wechselschüler“, die – aus der Klassik kommend – auf der Suche nach Neuem sind. Wenngleich ich keine gute klassische Pianistin bin, arbeiten wir dann haufig in beiden Bereichen. Denn in der Regel mochten die Schüler die Klassik ja nicht aufgeben, sondern etwas anderes hinzunehmen, sich erweitern. Leider gibt es derzeit noch zu wenige Kollegen, die dies anbieten konnen und die Offenheit für einen Blick uber Genregrenzen hinaus haben. Nicht zuletzt in Hinblick auf das spatere musikpadagogische Berufsfeld der Studierenden scheint es mir jedoch geboten, hier umzudenken: Angesichts der enormen Veränderungen in Schule und Musikschule haben wir eine Verantwortung, die junge Generation so auszubilden, dass sie auf die komplexen Aufgabenstellungen in ihrem zukünftigen Berufsfeld vorbereitet ist. Der Blick uber den vielleicht bislang vertrauten stilistischen Tellerrand gehort fur mich unbedingt dazu.

Sie beschäftigen sich seit langen Jahren mit der Gender-Thematik im Jazz: Welches Fazit ziehen Sie heute aus Ihren bisherigen Erkenntnissen und Erfahrungen?

Ein Schlüsselerlebnis wahrend meiner Studienzeit hat mich uberhaupt erst auf diese Spur gebracht. Bei einer Session mit mannlichen Kollegen gab es nach meinem Solo johlende Zustimmung. In meine Freude darüber mischte sich ein merkwurdiges, etwas unwohles Gefühl: Wurde applaudiert, weil ich gut gespielt oder weil ich als Frau gespielt hatte? Schon diese Überlegung und der Umstand, dass es mir nicht gelang, diese Ebenen zu trennen, fand ich sehr frustrierend. Und ich konnte und musste feststellen, dass es auch fur mich, fur mein Zuhören und Wahrnehmen eine Rolle spielte, ob eine Frau oder ein Mann am Klavier sas. Diesem Phänomen, der Frage nach dem Warum und den daraus resultierenden Konsequenzen in Bezug auf weibliches Verhalten bin ich im Rahmen meiner Diplomarbeit nachgegangen. Die damaligen Ergebnisse sind uber die Jahre mit eigenen Erfahrungen verschmolzen. Ich denke heute, dass es sehr wohl geschlechterspezifische Unterschiede gibt. Es gibt Unterschiede – nicht in der Musik, aber im Umgang miteinander und in der Gesellschaft. Das kann man nicht ignorieren. Mein Titel der Arbeit lautete: „Müssen wir anders sein?“ Ja, manchmal mussen wir anders sein. Manchmal muss man sich als Frau im Jazz anders benehmen, manchmal anders prasentieren, anders argumentieren, um sich einen Platz in der Szene zu erkämpfen. Dies hangt – weit uber das Musikalische hinaus – selbstverständlich eng zusammen mit dem Bild der Frau in unserer Gesellschaft, mit Klischees, Erziehungs- und Verhaltensweisen. Hinsichtlich des Miteinanders von Frauen und Männern, der Konkurrenz und Kollegialität gibt es noch reichlich Entwicklungspotenzial; auch im musikalischen Bereich: Denn Musiker sind schließlich auch keine besseren Menschen.