Eberhard, Daniel Mark

Musik lebt von Vielfalt!

Heterogenität als Herausforderung, Problemstellung und Chance

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2012 , Seite 52

Beim Umgang mit heterogenen Gruppen treten zum Teil massive Probleme und Belastungen bei Lehrkräften auf, die verstärkt an Ganztagsschulen ­eingesetzt werden oder an ihren Musikschulen auf herausfordernde Ensemble­konstellationen treffen. Daniel Mark Eberhard entfaltet das Thema Hetero­genität in drei unterschiedlichen Dimensionen: als (musik-)pädagogische Heraus­forderung, als Ursache von Störun­gen und als besonderes Potenzial und Chance.

Was bedeutet Heterogenität? Das Wort leitet sich vom griechischen „heterogenis“ ab und bedeutet „von anderer Art“, „verschiedenartig“, „uneinheitlich“. Demnach ist die Bedeutung des Substantivs „Ungleichartigkeit“, „Verschiedenartigkeit“, „Uneinheitlichkeit“. Bei einer heterogenen Gruppe überwiegt die Anzahl bzw. das Gewicht der Unterscheidungsmerkmale ihrer Gruppenmitglieder.
Musikspezifisch bezieht sich Heterogenität meist auf unterschiedliches Leistungsvermögen. Dabei ist das Spektrum an Heterogenitätsfaktoren wesentlich umfassender – verwiesen sei z. B. auf Differenzen hinsichtlich Werkkenntnis, Auffassungsgabe, rhythmischer Sicherheit, Ausdrucksfähigkeit, Hör­erfahrung, Vorwissen, Übeverhalten, Intonationssensibilität, Konzentrationsfähigkeit, mu­sikalischer Förderung, motorischen, ­vokalen, instrumentalen Potenzials, psychischer Kons­titution, Musikgeschmack, Interaktionsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Refle­xionsvermögen, Blattspielfähigkeit usw.

Heterogenität als gesamtgesellschaft­liche Aufgabe
Da Heterogenität von grundlegender, gesamtgesellschaftlicher Relevanz ist, benennt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das Inter­agieren in heterogenen Gruppen als Schlüsselkompetenzfeld für die Beantwortung der Leitfrage: „Welche Kompetenzen benötigen wir für ein erfolgreiches Leben und eine gut funktionierende Gesellschaft?“1
Die Herausforderung beim Umgang mit Heterogenität besteht letztlich darin, Vielfalt im Sinne Sozialer Inklusion oder des Diversitätsmanagements nicht als Sonder-, sondern als Regelfall zu deuten und die natürliche Vielfalt konstruktiv zu nutzen. Nicht die „Andersartigen“ (z. B. Migranten, sozial Schwache, Senioren, Behinderte) müssen in Bestehendes eingegliedert werden, sondern die gegebene „Schieflage“ ist der normale Ausgangspunkt, von dem aus alle Beteiligten gleichberechtigt miteinander interagieren. Meist wird Heterogenität jedoch als massives pädago­gisches Problem betrachtet, das auch in musikpädagogischen Zusammenhängen in Erscheinung tritt.

Heterogenität als ­Problem: Gestörter Unterricht

Zu den Hauptbelastungen von InstrumentallehrerInnen gehören neben unzulänglichen Rahmenbedingungen psychische Belastungen, vor allem hervorgerufen durch Störverhalten der SchülerInnen.2 Störungen sind ein selbstverständlicher Bestandteil institutionalisierter Bildungs- und Erziehungsprozesse, dennoch schweigen viele Lehrkräfte über ­ihre Probleme im Unterricht. Die Folge sind Frustration, Demotivation bis hin zu Erkrankung und Berufsunfähigkeit. Entgegen der Auffassung vieler LehrerInnen an allgemein bildenden Schulen ist auch der Musikschulunterricht mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet.3 Verantwortlich gemacht werden hierfür meist die SchülerInnen, obwohl gleichrangige Problempotenziale auch auf Seiten der Lehrkraft und des Gesamtsystems des Unterrichts bestehen.
Damit kommt es zu vorschnellen Schuldzuschreibungen und wenig hilfreichen Alltagserklärungen wie z. B. die Medien, die Dauerbeschallung, die Familien, die Schulleitung, die Politik etc. Derartige Pauschalurteile verhindern ein gezieltes pädagogisches Einwirken, stigmatisieren und verbauen Lösungswege. Die neuere musikpädagogische Unterrichtsforschung hat sich dem Problem häufig gestörten Musikunterrichts an allgemein bildenden Schulen und der Erforschung potenzieller Ursachen zugewandt.4 Auch wenn bislang eine empirische Überprüfung der Ergebnisse hinsichtlich der Bedingungen der Inst­rumental- und Vokalpädagogik fehlt, lassen sich die ermittelten Ursachen auch auf den Instrumental- und Vokalunterricht übertragen. Deutlich wird aus nachfolgender Auflistung der ermittelten 21 Ursachen für gestörten Unterricht, dass Heterogenität lediglich einen Faktor darstellt, obwohl die Lehrkräfte den heterogenen Lehr-/Lernvoraussetzungen häufig allein die Schuld geben:

1. Status und Funktion(en) (z. B. FachgruppenleiterIn oder SchulleiterIn – oder „nur“ LehrerIn)
2. Ausbildung (unzureichende Ausbildung im Hinblick auf schulpraktisches Instrumentalspiel, Improvisation, methodische Vermittlung)
3. Kompetenzen des Lehrers, Lehrerverhalten und -persönlichkeit (LehrerIn als Künstlerpersönlichkeit mit chaotisch-kreativen Zuschreibungen, fehlende Ich-, Sozial-, Fach-, Methodenkompetenz, auffälliges Lehrerverhalten)
4. Schülerpersönlichkeit und Beziehungen unter Schülern (auffällige Eigenarten einzelner Schüler; schwer zu durchdringende gruppendynamische Beziehungen)
5. Jahrgangsstufe und Alter (entwicklungsbedingte Besonderheiten, z. B. in der Pubertät)
6. Erwartungshaltung (SchülerInnen, auch Erwachsene, erwarten vom Unterricht häufig etwas anderes als der Lehrer, die Eltern, die Schulleitung, die Politik oder die Verbände)5
7. Langeweile (fehlende Abwechslung, Vorhersehbarkeit der Unterrichtsgestaltung, feh­lende Aktivierung)
8. Über- oder Unterforderung (SchülerInnen finden sich häufig unterfordert, während LehrerInnen das Gegenteil empfinden)
9. Reiz und Faszination der Instrumente (starke Anziehungskraft der Instrumente, SchülerInnen wollen spielen, ausprobieren, der Lehrer ist auf Ruhe und Konzentration bedacht)
10. Motorischer Aufforderungscharakter von Musik (Schüler, vor allem Kinder und Jugendliche, wollen sich zu Musik bewegen, häufig fehlen jedoch diese Bewegungsangebote)
11. Geschlechtsspezifische Auffälligkeiten (Mädchen und Jungen verhalten sich im Unterricht unterschiedlich und haben unterschiedliche Musikpräferenzen)
12. Heterogene musikalische Voraussetzungen (unterschiedliche Förderung im Elternhaus, Förderung ab Kleinkindalter oder erst später, Unterschiede hinsichtlich Auffassungsgabe, Motivation und Lerntempo)
13. Musikgeschmack (Unterschiede zwischen Lehrkräften und SchülerInnen, aber auch innerhalb der Schülerschaft; häufig enge Verbindung zwischen Musikgeschmack und Verhalten, Kleidung, Sprache, Codes etc.)
14. Lehrer-Schüler-Beziehung (geringe Kontaktzeit pro Woche, Problem der Namenskenntnis in großen Gruppen, fehlendes Vertrauen und fehlende Offenheit)
15. Unterrichtsgestaltung (einseitig, monoton, berücksichtig keine Schülerinteressen)
16. Umgang mit Musikelektronik, Medien, Technik und Musikinstrumenten (Störungen durch technische Defekte)
17. Unterrichtsinhalte nach Umgangsweisen mit Musik (Störungen beim Machen, Hören, Erfinden, Umsetzen und beim Nachdenken über Musik durch schwer vermittelbare Inhalte, z. B. altersunangemessene Literaturauswahl im Instrumentalunterricht, fehlende Hörerfahrungen, motorische Defizite)
18. Mangelnde Organisation (fehlende Regeln, unzureichende Unterrichtsplanung)
19. Rahmenbedingungen des Musikunterrichts (Raum, Zeit, Ort und Ausstattung sowie Lehrplan ungeeignet)
20. Bedeutung und Stellenwert des Fachs (Musik als Hobby, Freizeit-, Spaß-, Ausgleichs- und Nebenfach; kein ernsthafter Anspruch oder Wille)
21. Alltäglichkeit von Musik (kostenfreie Verfügbarkeit von Musik, Dauerberieselung, gedankenloser Umgang mit Medien etc.)

Große Bereiche der Unterrichtswirklichkeit sind veränder- und gestaltbar. Dies betrifft sowohl die Ebenen der Lehrkraft (1-3), der SchülerInnen (4-13), der Lehrer-Schüler-Beziehung (14), des Unterrichts (15-20) und der Rahmenbedingungen (21). Die Auflistung der Ursachen dient als Diagnosehilfe für den ­eigenen Unterricht. Damit wird die Liste zu einer Art Matrix, mit der sich Unterricht systematisch analysieren lässt. Die Identifika­tion der tatsächlichen Schwierigkeiten trägt zum professionalisierten Umgang bei und eröffnet den Weg für zielgerichtete Interventionen.

Heterogenität als Chance: Musik lebt von Vielfalt!

Ein professioneller Umgang mit Heterogenität setzt sowohl die systematische Reflexion6 als auch Handlungsoptionen zur Bewältigung voraus. Notwendig ist hierzu ein Sichtwechsel. Die Vielfalt an Leistungsniveaus, kulturellen und sozialen Hintergründen sollte als Chance für die unterrichtliche Gestaltung und den sozialen Umgang miteinander verstanden und genutzt werden. Hilfreich ist auf der Ebene des Unterrichts die Orientierung an den Prinzipien „guten Unterrichts“7 bzw. „guten Instrumentalunterrichts“.8 Dem Interaktionsverhalten und den Beziehungen unter den Beteiligten kommt dabei eine zent­rale Rolle zu.
Dies betrifft auch die Lehrerebene: Anstelle des Einzelkämpfertums sollten sich die FachkollegInnen offen über ihre Probleme austauschen. Der Wissens- und Erfahrungsaustausch führt zur Professionalisierung musikpädagogischen Handelns an den Musikschulen, zur gesteigerten Zufriedenheit von Lehrkräften, SchülerInnen und Eltern und letztlich zur Einsicht in das einzigartige Potenzial heterogener Gruppen für lebendigen Unterricht.

1 OECD (Hg.): Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung, www.oecd.org/dataoecd/36/56/35693281.pdf (Stand: 1.2.2012).
2 Anna Maria Hofstätter: „Und wie geht es eigentlich den Musikschullehrern?“ in: üben & musizieren 2/2002, S. 6-9.
3 vgl. üben & musizieren 2/2006; Heftthema: Wenn der Musikunterricht schwierig ist.
4 Daniel Mark Eberhard (2010): „Ursachen von Unterrichtsstörungen im Fach Musik aus Sicht der Beteiligten und Entwicklung eines Diagnosebogens zur Metakommunikation im Musikunterricht der Bayerischen Realschule“, http://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/volltexte/2010/1623/ (Stand: 31.10.2011).
5 vgl. Stefan Lindemann: „Schülererwartungen – Lehrererwartungen – Elternerwartungen. Das Bermuda-Dreieck des Musikunterrichts“, in: üben & musizieren 6/2002, S. 18-22.
6 vgl. Micaëla Grohé: Der Musiklehrer-Coach. Professionelles Handeln in konflikthaften Unterrichtssituationen, Esslingen 2011.
7 Hilbert Meyer: Was ist guter Unterricht?, Berlin 2010, S. 25.
8 Anselm Ernst: Was ist guter Instrumentalunterricht? Beispiele und Anregungen, Aarau 2007.
9 Jürgen Terhag/Jörn Kalle Winter: Live-Arrangement. Vom Pattern zur Performance, Mainz 2011.

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