Schmid, Manfred Hermann

Notationskunde

Schrift und Komposition 900-1900

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2012
erschienen in: üben & musizieren 6/2012 , Seite 59

Mit diesem Buch ist ein Standard­werk entstanden. Das ist bemerkenswert, weil es seit Langem vor allem zwei Standardwerke zur Notationskunde – von Johannes Wolf und Willi Apel – gibt, denen, wie der Autor selbst schreibt, „soweit es um die Beschreibung von Zeichen und ihrer Bedeutung geht, […] kaum etwas hinzuzufügen“ ist. Indem er in vieler Hinsicht über diese Vorbilder hinausgeht, legt Manfred Hermann Schmid mit seiner Veröffentlichung etwas durchaus Neuartiges vor.
Das von ihm gewählte chronologische Vorgehen, das Apel beispielsweise aus didaktischen Gründen vermied, bindet Nota­tion aufs Engste an musikhistorische Entwicklungen und schließt (siehe Untertitel) drei Jahrhunderte Schreibtradition nach 1600 ein, für die sich die historische Notationslehre bislang kaum interessiert hat. Der lebendige Stil vermeidet jegliche lehrbuchartige Trockenheit, sodass man beinahe jede Seite mit großem Interesse liest. Außerordentlich treffend ist die Wahl, die Fülle und die Präsentation der Beispiele, deren jedes charakteristische Merkmale im Kontext der behandelten Aspekte deutlich macht. Hierin sowie durch den über das Internet leicht einzubeziehenden Lehrgang mit Aufgaben und Lösungen erweist sich der Autor als kompetenter Fachmann mit einer stupenden Kenntnis zahl­loser Handschriften und Drucke und einem erstaunlichen Gespür für notationsrelevante Fragen und Probleme bis in subtile Details hinein.
Aufschlussreich ist die Diskus­sion von ungelösten oder einfach nicht lösbaren Einzelphänomenen, wodurch die Gegenstände plastischer und erfahrbarer werden. Dazu gehören Schrift- und Druckeigentümlichkeiten so­wie mögliche Fehler und Ungenauigkeiten der Schreiber. Auch das nicht Fixierbare wie Singtraditionen und Abweichungen von geltenden Tonsystemen kommen oftmals bedeutsam ins Bild.
Schmid bietet also mit seiner Notationskunde viel mehr, als der Titel verrät. Er will nicht Notation als Notation lehren, sondern zeigen, dass Notation und Komposition, Schrift und Klang, Aufzeichnung und Wiedergabe untrennbar zusammenhängen, dass jeder Wandel im Notenbild auf einen Wandel der jeweiligen Musik reagiert und umgekehrt  kompositorische Veränderungen durch neue Schriftelemente erst ermöglicht oder sogar provoziert werden. Zugleich akzentuiert er die für alle Epochen geltende Tatsache, dass der genaue Sinn eines Musikstücks der Vergangenheit sich erst aus dem originalen Notenbild erschließt.
Auch der ausübende Musiker sollte sich nicht mit Transkriptionen begnügen, sondern sich von einem Fachmann dahin führen lassen, Musik anhand ihrer Aufzeichnung besser verstehen und interpretieren zu können. Dass dies auch noch für Partituren von Mozart, Schumann oder Wagner gilt, wird einleuchtend deutlich gemacht und sollte ein weiterer Grund dafür sein, dass nicht nur der Fachhistoriker, sondern jeder wache Musiker diese Schrift in seinen Bücherbestand einreiht.
Peter Schnaus