Knodt, Peter

Mit dem Video sieht man anders

Über die Verwendung von Videoaufnahmen im Unterricht

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 5/2012 , Seite 31

Videodokumentationen von Unterricht dienen hervorragend als gemeinsamer Ausgangspunkt zum Nachdenken und Sprechen über Aspekte des Lernens und Lehrens im Instrumentalunterricht. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich und können sehr flexibel eingesetzt werden.

Basel, September 2006 – Musikpädagogisches Forschungsprojekt „Einblicke/Perspek­tiven I“:1 Ein Hornkollege unterrichtet einen „meiner“ Schüler vor laufenden Kameras. Schon während des Unterrichts denke ich: „Was macht er da eigentlich?“ Mehrere Monate später: Ich betrachte das Video in der Auswertungsphase des Projekts. Der Unterricht gefällt mir nicht und erzeugt regelrechte Widerstände in mir. Einen weiteren Monat später: Nachdem ich den Unterricht immer wieder angeschaut habe, kann ich nun auch positive Aspekte sehen. „Plötzlich“ erkenne ich, dass dem Schüler durchaus geholfen wird. Er lässt sich offen auf die Anleitungen und Übungen des Kollegen ein und kann zwei ungünstige Bewegungsverknüpfungen entkoppeln. Er ist aktiv, kann eigene Erfahrungen machen.
Was ist hier geschehen? Warum konnte ich die Angemessenheit dieser Übungen zunächst nicht (an-)erkennen? Ich denke, es waren vor allem meine pädagogischen Grund­überzeugungen, die meine Wahrnehmung und Einschätzung bestimm(t)en.2 Die völlig musikfreie, sehr mechanische und in den Mundraum eingreifende Maßnahme des Kollegen riefen unmittelbar meine innere „Pädagogische Polizei“ auf den Plan. Sicher war es auch mein Ärger und verletzter Stolz, dass ich „meinem“ Schüler selbst nicht besser hatte helfen können.
Letztendlich war die wiederholte Auseinandersetzung mit der Videoaufnahme eine große Hilfe für mich. Ich habe mich mit meiner Lernbiografie auseinandergesetzt, dabei mehr Klarheit gewonnen und fühle mich nun freier beim Unterrichten. So kann ich den SchülerInnen, den Studierenden und mir selbst besser gerecht werden. Das zunächst unmöglich scheinende Verhalten des Kollegen, der schein­bar klare Fehler, enthielt wertvolles Potenzial zu meiner Weiterentwicklung. Durch die intensive Betrachtung der Videodokumentation konnte sich dieses Potenzial entfalten und wirksam werden.

Unterrichtsdoku­mentationen geben Wertvolle Impulse

Ein anderes Beispiel für die Entwicklungschancen durch den Einsatz von Lehrvideos habe ich an der Hochschule für Musik Mainz erlebt. Mit einem Studenten im Bachelor Inst­rumentalpädagogik, Hauptfach Trompete, habe ich zunächst in regelmäßigen Treffen mit einem etwas jüngeren Kollegen und einer jungen Kollegin des Konservatoriums, beide mit Hauptunterrichtsfach Trompete, die selbst angefertigten Unterrichtsvideos des Studenten angeschaut und diskutiert. Nachdem sich für den Studenten daraus Pers­pektiven für sein weiteres Unterrichten abzeichneten, gab ich ihm als zusätzliche Anregung eine Videodokumentation eines Unterrichts aus „Einblicke/Perspektiven I“: Ich unterrichte den achtjährigen Hornanfänger Florian knapp 15 Minuten lang. Wir erfinden und spielen eine Geschichte zum Kinderlied Fuchs, du hast die Gans gestohlen. Ich schlage Florian vor, den anschleichenden und den fliehenden Fuchs unserer Geschichte im Tempo des Lieds erkennbar zu machen. Im folgenden Erkennungsspiel soll Florian die ersten beiden Takte des Lieds entweder schleichend langsam oder fliehend schnell spielen. Ich muss die dazu passende Szene erkennen. Beide Tempi gelingen Florian ausgesprochen klar und gut.
Diese Videoaufnahme schaute sich der Student über drei Wochen verteilt mehrfach an und entwickelte daraus die Teile des Unterrichts mit seinem Schüler (auch Anfänger, sieben Jahre). In der Lehrprobe seiner Abschlussprüfung gelang ihm dann, selbst in der besonderen Situation vor der Prüfungskommission, ein lebendiger Musikunterricht. Er konnte Inhalte und Vorgehensweisen aus dem Video stimmig an sich, seinen Schüler und die Situation anpassen.

1 Stefan Häussler: „Warum geschieht jetzt gerade das? Unterricht verstehen, um unterrichten zu lernen: Erfahrungen eines Basler Videoprojekts“, in: üben & musizieren 6/2008, S. 49-51.
2 Wolfgang Stroebe/Klaus Jonas/Miles R. Hewstone: Sozialpsychologie. Eine Einführung, Berlin/Heidelberg 42001, S. 297 ff. (Konsequenzen von Einstellungen).

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