Brandner, Hans

Bewegungslinien der Musik

Alexander Truslit und seine Lehre der Körpermusikalität, der Kinästhesie der Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2012
erschienen in: üben & musizieren 5/2012 , Seite 56

Stellen Sie sich ein klassisch-romantisches Musikstück vor und vollführen Sie dazu im Stehen, aus Ihrer Körpermitte heraus, spiralförmige Schwungbewegun­gen der Arme, in großen Bögen und kleinen Schleifen, die die melodisch-harmonischen Spannungsverläufe der musikalischen Phrasen dynamisch und agogisch nachzeichnen. Wenn Sie diese musikalisch-körperlichen Bewegungslinien nun grafisch visualisieren und mittels Interpretationsvergleich systematisieren, sodass sich einige Grundbewegungen ergeben, die die Einheit von Musik und Körperbewegung abbilden, dann haben Sie den Kern der Lehre und Arbeitsweise des weitgehend vergessenen Reformpädagogen Alexander Truslit (1889-1971) erfasst, dessen Werk und Vita der Pianist und Klavierpädagoge Hans Brandner mit Leidenschaft entfaltet.
Im ersten Kapitel thematisiert Brandner mit Frederic Horace Clark, Elisabeth Caland und Ludwig Deppe die Pioniere der neuen physiologischen Richtung der Klaviermethodik um 1900 „als Ausgangspunkt von Truslit“, der vom Liszt-Jünger Clark die (nicht unumstrittene) Rotationsbewegung des Arms vom Rückgrat bis in die Finger und deren grafische Abbildung, von seiner Lehrerin Caland u. a. die Maxime der ­Bewegungsökonomie, die „Freiübung“ runder Armbewegungen und die Ableitung „natürlicher“ pianistischer Technik aus dem Geist des Werks und seinem inneren Erleben übernimmt.
Aus diesen Einflüssen formt Truslit seine – im zweiten Kapitel dargestellte – musikalische Gestaltungslehre, deren Ziel die „ganzheitliche Identität von Musik und Körper“, Werk und Spielbewegung ist. Die der Musik entsprechende „innere Bewegung“ prägt die Körpermusika­lität des Spielers und erwirkt einen „natürlichen“ Bewegungsablauf und Spielfluss, der sich vor allem in einer flexiblen Dynamik und Agogik ausdrückt.
Die leitende Idee der „Dynamo-Agogik“: Eine elastisch expressive, freie Zeit- und Lautstärkengestaltung als wichtigstes Kriterium musikalischen Ausdrucks bildet das wohl bedeutsamste Zentrum von Truslits Forschung und Lehre, zusammengefasst
in seinem vortragsanalytischen Buch Gestaltung und Bewegung in der Musik von 1938, das mit zahlreichen Notenbeispielen und Visualisierungen sowie Klangbeispielen auf drei Schellackplatten medial ebenso richtungsweisend ist wie der Studienfilm Musik und Bewegung (den man sich gerne als Beigabe zum Buch gewünscht hätte).
Auf kritische Aspekte der Truslit-Pädagogik wie den Kurzschluss von Werkgestalt und Bewegungsform, der nur wenige Spielräume der Interpretation zulässt, geht Hans Brandner kaum ein. Neuere Forschungen zur Aufführungspraxis und Vortragslehre, Analyse und Interpretation (Danuser u. a.) werden zwar erwähnt, aber nicht weiter diskutiert. Mehr Apologie Truslits als historisch-kritische Analyse seines Werks, liegt die Bedeutung der aus pianistischer Überzeugung geschriebenen Stu­die vor allem in der Entdeckung einer frühen musikpädagogischen Arbeit mit Bewegungsvorstellungen und -übungen – mit dem Ziel, dass der Körper musikalisch und Musikhören und Musizieren bewegt und bewegend werden.
Dass dieser Grundgedanke in der Musik- und Instrumentalpädagogik inzwischen eine vielfache Differenzierung erfahren hat (Pütz, Richter, Meyer-Denkmann, Röbke, Oberhaus u. a.), darauf geht Brandner ebenso wenig ein wie auf die Vorläufer heutiger Körpermusikalitätsdiskurse in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts (Paul Bekker, Heinrich Jacoby u. a.). Und dass im Vergleich zu neueren Körperansätzen Truslits „Grundformen der musikalischen Bewegung“ rudimentär und in ihrer Melos-Orientierung rückwärtsgewandt erscheinen, ist nicht zuletzt den reformpädagogischen, musikalisch-rhythmischen, biologistischen und spekulativen Zeittendenzen geschuldet, denen Truslit verhaftet war und die der Autor in den Kapiteln zu den biografischen Stationen und musik-, tanz- und kunstgeschichtlichen Kontexten Truslits wenn nicht immer plausibel, so doch eindrucksvoll ausbreitet.
Wer sich an manchen wissenschaftlichen Lücken und Ungenauigkeiten der Studie nicht weiter stört, dem bringt die Begegnung mit einem durchaus interessanten Musik- und Bewegungspädagogen und verdienstvollen Pionier der Vortrags- und Performanceforschung einigen Gewinn. Im Kontext musikalischer Körperpraxis und -geschichte bildet Truslit jedenfalls einen wichtigen Mosaikstein, für dessen Wiederentdeckung dem Autor großer Dank gebührt.
Wolfgang Rüdiger