Schultz-Greiner, Regine

Sicher kann man es lernen!

Im Gespräch mit Sheila Nelson

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2012 , Seite 43

Diese Überzeugung hat Sheila Nelson nie verlassen: Dass jeder lernen kann, ein Instrument zu spielen – auch ohne die Hilfe von Eltern. Oder dass man lernen kann, eine gute Lehrerin zu sein. Und sie hat den Beweis dafür schwierigen Bedingungen zum Trotz angetreten. Mehr als 2 000 Londoner Kinder bekamen Ende der 1970er Jahre im Tower Hamlets Project die Chance, in ihrer Schule Geige und später auch Cello oder Bass zu lernen. Für diesen Großgruppenunterricht hat sie Instrumentalisten und Grundschullehrkräfte mit dem nötigen methodischen Rüstzeug versehen und den Kindern immer wieder neue motivierende und herausfordernde Stücke auf den Leib geschrieben. Seit Beginn ihrer Unterrichtstätigkeit betreibt Sheila Nelson ihre eigene Musikschule in ihrem Londoner Haus. Mit einer Gruppe von Geigen- und Bratschen-Studentinnen aus allen pädagogischen Studiengängen der Universität der Künste Berlin* traf Regine Schultz-Greiner Sheila Nelson in der Musikschule Waghäusel, der sie seit Jahren verbunden ist.

Nachdem Sie Geige studiert hatten, spielten Sie in verschiedenen großen Orchestern. Können Sie uns davon erzählen?
Als Erstes spielte ich im English Chamber Orchestra, gleich im Anschluss ans College. Aber nach ungefähr 14 Jahren gab es einige Probleme und viele von uns verließen das Orchester. Dann wollte ich gerne in einem großen Orchester spielen und ging deshalb zum Royal Philharmonic Orchestra. Sie wollten, dass ich die erste Geigerin würde. Ich habe eine gewisse Zeit in diesem Orchester gespielt und mich dann doch dazu entschieden, nicht zu bleiben – es ist nicht sehr schön, die einzige Frau inmitten von 80 alten Männern zu sein. Also war ich dort nur ein paar Jahre und bekam dann eine Einladung von Yehudi Menuhin, in seinem Kammerorchester zu spielen. Dort war ich ungefähr zwölf oder 14 Jahre. Wir konzertierten auf der ganzen Welt und bekamen immer die besten Hotels. Ich verstand mich sehr gut mit Yehudi und zum Glück konnten wir gut streiten während unserer langen Bahnfahrten. Er schickte ein oder zwei Schüler zu mir, einer von ihnen war Daniel Hope, der kam zu mir, als er vier war.

Was war der Impuls, sich ganz auf das Unterrichten zu konzentrieren und das aktive Spielen aufzugeben?
Schon mit 16 Jahren begann ich zu unterrichten und habe dies auch immer parallel zum Studium und zum Orchesterspiel fortgesetzt, das Gewicht hat sich nur später mehr zum Unterrichten hin verlagert. Eigentlich habe ich erst ganz aufgehört zu spielen, nachdem ich mir alle Finger der linken Hand gebrochen hatte. Die Entscheidung war also nicht wirklich meine.

Welche Abschnitte Ihres Lebens waren besonders wichtig für Ihre Entwicklung als Pädagogin?
Mein Vater war der geborene Lehrer, er spielte sehr gut Klavier und war wirklich unglaublich geduldig. Das war wahrscheinlich die stärkste Prägung. Eine andere wichtige Erfahrung war für mich die Alexandertechnik. Ich entdeckte sie nach dem Studium und sie half mir, meine körperlichen Schwierigkeiten beim Geigenspiel zu beheben. Ich nahm sechs oder sieben Jahre lang an Kursen teil und begann nach und nach zu verstehen, was die Alexandertechnik bei mir bewirken konnte. Auf einmal funktionierte alles. Danach war ich in der Lage, wieder so zu spielen, wie ich wollte.

Was mögen Sie am meisten am Unterrichten?
Am liebsten mag ich die Jüngsten und die Zeit, wenn sie flügge werden, irgendwann zwischen dem dritten und vierten Unterrichtsjahr, wenn sie nicht mehr nur wegen der Kekse kommen [nach dem Unterricht bekommt bei Sheila Nelson jeder Schüler einen Keks]. Ich meine, sie bekommen trotzdem einen Keks, aber sie fangen an, die Musik für sich selbst zu entdecken, und ich kann sie in kleinere Gruppen stecken, wo sie wirklich selbstständig Musik machen können. In meinem Haus gibt es Kammermusikgruppen auf allen Niveaus. Kammermusik ist das, was ich in meiner Unterrichtstätigkeit am meisten genieße.

Und was mögen Sie am wenigsten?
Schwierige Eltern!

Wie würde die allererste Unterrichtsstunde aussehen, die Sie einer Gruppe von Siebenjährigen erteilen?
In den ersten Monaten unterrichte ich die Kinder in der Regel allein. Wenn sie dann so weit sind, mit anderen zusammenzuspielen, bilde ich Gruppen.

Welchen Stellenwert hat Singen in Ihrem Unterricht?
Singen ist absolut notwendig! Wenn die Kinder das Gefühl haben, dass sie nicht singen können oder wollen, zwinge ich sie natürlich nicht dazu. Allerdings kann man auf der Geige nur sauber spielen, wenn man singen kann.

Was tun Sie, wenn es Ihren Schülern an Motivation fehlt und sie nicht mehr üben?
Ich rede mit Ihnen. Ich frage sie: „Möchtest du oder möchtest du nicht?“, und dann denken sie darüber nach. Normalerweise sagen sie: „Ja, ich möchte!“ Bei allen gibt es mal einen Tiefpunkt und wieder bessere Phasen. Manchmal verwende ich die Prüfungen des Associated Board of the Royal School of Music als Anreiz, falls sie Lust darauf haben. Aber das mache ich nicht oft.

Wie viele Stunden unterrichten Sie durchschnittlich?
Zu viel! Ich habe kürzlich entschieden, dass ich zu viel unterrichte. Ein paar Schüler sind gerade auf die Uni gekommen. Viele der Schüler, die ich jetzt unterrichte, sind Kinder von ehemaligen Schülern; Menschen, die jahrelang in meinem Haus waren… Ich habe es jetzt geschafft, zwei unterrichtsfreie Tage einzuplanen – Donnerstag und Freitag. Das ist das erste Mal. An den anderen fünf Tagen unterrichte ich fast durchgängig. Ich versuche auch, mir die Sonntagnachmittage frei zu nehmen.

Ich hatte einmal einen Lehrer, der mich nach dem Spielen immer fragte, wie ich mich fühle. Finden Sie es wichtig, dass Schüler über ihre Wahrnehmung und ihre Schwierigkeiten mit der Geige sprechen?
Nein, denn man kann mit Worten nicht wirklich ausdrücken, wie man sich fühlt. Ich finde es auf jeden Fall wichtig, dass Schüler das Gefühl haben, jederzeit fragen zu können. Aber manchmal wünsche ich mir, dass ihre Wahrnehmung besser wäre. Manchmal gewöhnen sie sich schlechte Sachen an, die man dann schwer wieder umstellen kann. Ich würde eher von ihnen erwarten, dass sie mich fragen: „Wie fühlst du dich?“

Wie ist Ihre Unterrichtsliteratur entstanden?
Ich arbeitete gerade an einem Buch über die Geschichte der Violine; aber das hatte ich schnell satt, es machte mir keinen Spaß. Da dachte ich: Warum nicht Stücke? Und so schrieb ich Right from the Start. Es war das erste Heft, das ich zu einem Verleger brachte. Ich ging in der Probenpause des English Chamber Orchestra dorthin. Sie riefen mich dann an und fragten, ob ich ihre Streicher-Beraterin werden wollte, denn sie machten sich große Sorgen um diesen Bereich. So blieb ich dort 30 Jahre lang. Es war ein guter Job. Nicht zu viel Arbeit. Und ich mochte es, Stücke zu schreiben.

Welches Ihrer Hefte verwenden Sie am meisten?
Viele verschiedene, um ehrlich zu sein, denn ich habe viele verschiedene Schüler. Mit den Kleinen verwende ich oft die Octotunes. Und ich benutze Right from the Start. Und dann sind da noch die Quartette für die Älteren, bevor sie sich an ein Stückchen Mozart oder Beethoven wagen…

Normalerweise bleiben Ihre Gruppen über mehrere Jahre zusammen. Ist es auch möglich, dass Schüler in eine höhere oder niedrigere Gruppe kommen, wenn es große Leistungsunterschiede gibt?
Ich stufe niemanden runter. Manchmal lasse ich Schüler nicht gleich eine Gruppe weiter, wenn sie technisch noch nicht so weit sind. Dann lasse ich sie meistens eine Prüfung ablegen und sie fangen an, Tonleitern zu üben, um in die höhere Gruppe zu kommen. Ab Gruppe Vier entscheiden die Schüler normalerweise selbst. Manchmal bringen sie auch Freunde von außerhalb mit und bilden Quartette, Quintette oder sogar Oktette. Aber im Moment haben wir einen Mangel an Cellisten, die meine Gruppen unterstützen können.

Ich würde gern mehr über Ihre Methodik erfahren. Mich interessiert am meisten, wie Sie in Ihren Gruppen die nötige Disziplin zum Unterrichten erhalten.
In den Anfangsstunden kommen die Eltern mit und setzen sich in den Unterricht, was nicht immer gut ist. Und wenn es nicht gut ist, bitte ich sie, nicht mehr mitzukommen. Bei einigen Kindern, vor allem bei ganz kleinen, klappt es besser, wenn die Eltern dabei sind. Aber einige benehmen sich definitiv besser, wenn ihre Eltern nicht dabei sind. Zuerst sind die Kinder in der „Baby-Gruppe“. Die geht ungefähr zwei Jahre, dann werden sie in zwei Quintette geteilt, wo die Eltern nicht dabei sein dürfen. Für sie gibt es oben einen Raum, wo sie sich unterhalten können. Aber manchmal sind sie sehr neugierig und schauen einfach in den Unterricht, dann ermahne ich sie, dass sie nächstes Mal nicht mehr kommen dürfen. Das gibt den Kindern ein Gefühl der Unabhängigkeit. Eltern würden gern immer beim Un – terricht dabei sein, aber wenn sie jede Stunde miterleben, können sie die Erfolge gar nicht erkennen, die ihre Kinder machen. Nur ich und die Kinder: Das ist einfach besser!

Und die nötige Disziplin, stellt sie sich von allein ein oder müssen Sie dafür etwas tun?
Das Wort Disziplin hat eigentlich nie Eingang in meinen Unterricht erhalten.

Ich mag das Wort auch nicht sehr, aber eine gewisse Aufmerksamkeit ist doch trotzdem vonnöten, oder?
Ich habe damit eigentlich keine Probleme.

Haben Sie Schüler mit dem so genannten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom?
Ja, ich kenne welche aus dem Tower Hamlets Project. Da gab es Kinder, die angeblich von Orangensaft hyperaktiv waren, ich meine vom falschen Orangensaft; keine Ahnung, was das war. Aber in meinem Unterricht hatte ich nie mit solchen Kindern zu tun.

Erzählen Sie doch bitte von Ihren Aufgaben im Tower Hamlets Project!
Ich war 14 Jahre lang für die Weiterbildung der Streicherlehrer zuständig. Das war viel Arbeit. Angefangen haben wir mit wenigen, aber am Ende waren es sehr, sehr viele, bis die konservative Regierung von Mrs. Thatcher das Tower Hamlets Project einstampfte. Wir waren sogar in der Royal Festival Hall. Es ist eine Schande, dass das Projekt beendet werden musste. Ich versuchte etwas aufzubauen, das die Regierung nicht weiter fortsetzen wollte.

Aber es gibt immer noch Treffen von ehemaligen Lehrkräften des Tower Hamlets Project.
Ja, wir sind enge Freunde und gründeten, als das Projekt zu Ende war, „Stringwise“, einen Verband von Lehrkräften des Tower Hamlets Project, die ihre Erfahrungen an Kinder und Kollegen weitergeben. Wir veranstalten z. B. drei Kinder-Ferienkurse im Jahr, die sehr beliebt sind.

Sind Sie weiterhin in der Lehrerausbildung bzw. -fortbildung aktiv, z. B. für die Royal School of Music?
Nein. Ich habe für die Royal Academy gearbeitet, auch im Royal College und in der Guildhall School, aber später entschied ich mich, zum Unterrichten lieber nicht mehr so viel hin und her zu fahren. Es kostet einfach zu viel Zeit. Heute kommen die Schüler zu mir.

Kann man lernen, eine gute Pädagogin zu sein, oder ist das eine Sache des Talents?
Sicher kann man es lernen! Ja!

Würden Sie uns raten, während unseres Studiums so viel Erfahrung wie möglich im Unterrichten zu sammeln oder eher mehr Zeit in die eigene künstlerische Entwicklung zu investieren und zu üben?
Ich würde euch an erster Stelle raten zu üben, um so gut zu werden, wie ihr nur könnt. Aber nebenbei kann man natürlich auch unterrichten. Ich wurde damals, gleich als ich ins College kam, gebeten, an einer Jungenschule in einem schwierigem Viertel zu unterrichten. Es war eine gute Einführung und sehr schwer, aber es war nützlich, das Geld zu haben, sehr nützlich. Alles, worin du gut bist oder werden kannst, wird dir irgendwann auch nützen!

Merken Sie einen Unterschied zwischen den verschiedenen Generationen, die Sie über die lange Zeit unterrichtet haben? Waren einige Generationen leichter zu unterrichten? Wird es Ihrer Meinung nach immer schwerer, Kinder zu begeistern?
Ich finde nicht, dass es immer schwieriger wird. Es wurde schwieriger, als Kinder mit vielen verschiedenen Sprachen kamen, aber ich genieße das. Meine Schüler kommen aus allen möglichen Ländern.

Haben Sie jemanden im Kopf, der Ihnen lieb wäre, der Ihr Herzensanliegen weiterführen könnte?
Du meinst einen Nachfolger? Nein. Aber ich habe eine ehemalige Schülerin, Philippa Bunting, die Tochter des berühmten Christopher Bunting. Sie ist ein ganz reizendes Mädchen. Sie möchte eine Biografie oder irgendwas über mich schreiben.

Aber möchten Sie das nicht selbst schreiben?
Nein! Auf keinen Fall!

Dann ist es doch wichtig, dass Philippa das macht, oder?
(lächelt) Ich werde nicht mehr dabei sein…

* Katja Braun, Noga Bruckstein, Susanne Hawlitzki, Constance Marchand, Klara Mille, Lili Nguyen-Huu, Oranna Sperber