Fuhrmann, Gregor

Das tastende Ohr

Visuelle Wahrnehmung und Inneres Hören

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 06

Musik ist eine klingende Kunst, die bekanntlich vor allem unseren Hörsinn anspricht. Dass allerdings auch das Auge dazu fähig ist, die unzähligen Striche und Punkte einer Partitur ohne Zuhilfenahme eines Instruments in unserem Kopf buchstäblich zum Klingen zu bringen, ist ein erstaunliches Phänomen, das unter Neurowissenschaftlern zunehmendes Interesse findet. Auf die Frage, wie man übt, wenn der Sehsinn plötzlich zu hören beginnt, möchte die Methode “Das tastende Ohr” einige Antworten geben.

Was ist Wahrnehmung: ein passiver Akt der Sinne oder eine aktive Konstruktionsleistung unseres Gehirns? Es bedurfte einiger Zeit, bis die abendländische Geistesgeschichte sich dazu durchringen konnte, von ihrer Skepsis gegenüber der Erkenntnisfähigkeit der Sinne abzurücken und die menschliche Wahrnehmung in völlig neuem Licht zu betrachten. Maßgeblichen Anteil daran hatte die Neurowissenschaft, die der amerikanische Forscher Eric Kandel hinsichtlich der anstehenden Aufgaben des 21. Jahrhunderts selbstbewusst als die „neue Wissenschaft des Geistes“1 tituliert. Wie der Nobelpreisträger weiter ausführt, sei das langfristige Ziel der Neurologen, die bislang den traditionellen Geisteswissenschaften vorbehaltene Erforschung mentaler Prozesse durch Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf das Fundament der Empirie zu stellen.
Neuesten Erkenntnissen dieses Wissenszweiges zufolge ist die Wahrnehmung, entgegen früheren philosophischen Annahmen, keineswegs ein passiver, rein abbildender Akt unserer Sinne, sondern vielmehr eine konstruktive, von zahlreichen analytischen Momenten durchsetzte Interpretation, deren Zustandekommen Kandel folgendermaßen kurz umreißt: „Die verschiedenen Wahrnehmungen – wenn wir ein Objekt sehen, ein Gesicht berühren oder eine Melodie hören – werden von verschiedenen sensorischen Systemen parallel verarbeitet. Zuerst analysieren die Rezeptoren eines jeden Systems die in dem Stimulus enthaltene Information und zerlegen sie. Anschließend abstrahiert jedes sensorische System diese Information und repräsentiert sie im Gehirn in den verschiedenen Bahnen und Hirnregionen. Zu jedem Zeitpunkt verarbeitet das Gehirn diesen konstanten Informationsfluß zu einer scheinbar kontinuierlichen Wahrnehmung. Daß uns unsere Wahrnehmungen als direkte und präzise Bilder der uns umgebenden Welt erscheinen, ist also eine Illusion.“2

Was ist Wahrnehmung: ein passiver Akt der Sinne oder eine aktive Konstruktions­leistung unseres Gehirns?

Diese allgemeine Charakterisierung unserer ganz alltäglichen Interpretationsleistungen hat auch weitreichende Folgen für die spezifisch musikalische Wahrnehmung. Ihr zufolge müsste jedes Vorstellungsbild, das sich unser empfindender Geist von einer in unser Ohr dringenden Musik macht, ein Spiegel individuell geformter Wahrnehmungsqualitäten sein. Auch beim Notenlesen stellt sich die Frage, inwieweit eine wache visuelle Wahrnehmung der niedergeschriebenen Musik bereits analytische Erkenntnisse in sich trägt, die später eine kostbare Bereicherung für jede eigenständige Interpretation darstellen können – sofern wir lernen, genau auf sie zu hören…

Lesen und visuelle Wahrnehmung

Lesen ist ein Akt der visuellen Wahrnehmung, bei dem das menschliche Auge über codierte Zeichen Informationen aufnimmt, die im Gehirn zu sprachlichen Vorstellungsbildern weiterverarbeitet werden. Die Funk­tionsweisen dieser zum größten Teil unbewusst ablaufenden Mechanismen erschienen der Wissenschaft so faszinierend, dass der französische Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene unlängst ein ganzes Buch herausbrachte, das sich ausschließlich der Untersuchung der menschlichen Lesefähigkeit widmet.3 Wie Dehaene ausführt, ist der hirn­interne Vorgang des Lesens entgegen jenem unteilbaren Anschein, der Wort und Schrift im alltäglichen Gebrauch eines alphabetisierten Menschen umgibt, alles andere als ein selbstverständlicher Akt, da dem letztend­lichen Verstehen der Bedeutung eines Wortes zahlreiche unbewusste, nur durch Lernen automatisierte Verarbeitungsschritte vorausgehen.4

1 Eric R. Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes, München 2006, S. 12.
2 Eric R. Kandel: Neurowissenschaften. Eine Einführung, Heidelberg 1996, S. 328.
3 Stanislas Dehaene: Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, München 2010.
4 vgl. ebd., S. 17.

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