Meyer, Thomas / Daniel Ott

Musik im Kopf

Anleitung zur Klang­imagination

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 18

Musik wird nicht nur gespielt und gehört, sie ereignet sich zuweilen auch bloß im Kopf. Das scheint schon fast zu banal, um eigens erwähnt zu werden – und wird dement­sprechend vernachlässigt; dabei enthält die Klangimagination ein ungemeines Potenzial.

Wo findet Musik statt? Im Konzert, wo sie von vielen gehört wird. Das ist die verbreitete Vorstellung. Und außerdem auf Tonträger oder im Radio. Sie findet natürlich auch dort statt, wo jemand für sich alleine spielt oder singt: „Am Klavier zu singen“ hieß das einst und war ein stilles und schönes Vergnügen. Aber findet sie nicht auch im Kopf statt, drinnen, ohne jede äußerliche klangliche Realisierung?
Manche reagieren erstaunt, wenn man ihnen von dieser Möglichkeit erzählt, um sich dann an das eigene innere Hören zu erinnern. Da ist zunächst einmal der Ohrwurm, der sich in den Gehörgängen festsetzt und uns nicht mehr verlassen will. Bei einigen Menschen kann es sich dabei um ein ganzes Konzert­repertoire von Ohrwürmern handeln. Oliver Sacks berichtet in seinem Buch Der einarmige Pianist von Menschen, die ständig und überall von Musik umgeben sind, die nur sie in ihrem Inneren hören. Er erzählt aber auch von seinem Vater: „Stets hatte er zwei oder drei Taschenpartituren bei sich, und zwischen zwei Patienten zog er oft die eine oder andere hervor und gönnte sich ein kleines inneres Konzert.“1 Diese stille Partiturlektüre ziehen manche sogar dem Konzertgenuss vor. Berichtet wird z. B. von jenem Mann, der sich mit zunehmendem Alter nur noch Barockes, ja eigentlich nur Bach und da vornehmlich Kantaten, bald nur noch die geistlichen, schließlich immer weniger, ja nur noch jene zum Sonntag Misericordias Domini anhörte. Als das mit dem Hörgerät nicht mehr klappte, beschränkte er sich auf die Partitur, las sie und hörte die Musik in seinem Inneren. Und so ist es ja auch bei KomponistInnen, die ohne Klavier und ohne Computerprogramme arbeiten und einfach Musik aus dem Kopf heraus aufs Papier setzen.
Man kann das als Nebenaspekt abtun. Und doch scheint diesem inneren Hören, dieser Klangimagination, eine eigentümliche Kraft und Intensität innezuwohnen. Nochmals Sacks: „Interessanter ist schon ihr Befund [einer kanadischen Forschungsgruppe], dass auch bei Personen, die nur Musik hören oder sich vorstellen, ohne dem Rhythmus oder Takt mit erkennbarer Bewegung zu folgen, der motorische Kortex und die subkortialen motorischen Systeme aktiviert werden. Die Vorstellung von Musik oder Rhythmus kann also neuronal ebenso wirksam sein wie tatsächliches Musikhören.“2

Wenn wir Musik hören, komponieren wir mit. Wir imaginieren laufend, wie die Musik weitergehen könnte.

Von da aus ist es nicht weit zu Klangerlebnissen, die wir im Schlaf haben. Karlheinz Stock­hausen berichtete, er habe – ähnlich wie einst Giuseppe Tartini seine Teu­fels­triller­sonate – die Melodien des Tierkreises geträumt;3 Mauricio Kagel erzählte – parodistisch – das gleiche von Match.4 Hector Berlioz wiederum versuchte, ein geträumtes Sinfonie-Allegro wieder zu vergessen, weil er all die Mühe und Arbeit schon vor sich sah, die diese Komposition auslösen würde: „Ein Schauder überlief mich bei diesen Gedanken.“5

Sphärenmusik

Wenn wir Musik hören, komponieren wir mit. Wir imaginieren laufend, wie die Musik weitergehen könnte; darauf beruhen unsere Hörerwartungen und zum Beispiel auch der Zauber von Wiederholung und Differenz. Hörerwartungen können überhaupt nur enttäuscht oder widerlegt werden, weil wir uns etwas vorstellen.
Es drängen sich uns also von allen Seiten her Klangvorstellungen auf, ohne dass sie im Äußeren irgendeine reale Entsprechung hätten. Das ist die eine Seite der Klangimagination. Die andere wirkt eher spekulativ. Es ist die Vorstellung, dass es eine Musik geben könnte, die noch viel schöner ist als jene, die wir hören. John ­Keats schrieb in seiner Ode on a Grecian Urn (1819): „Heard melodies are sweet, but those unheard / Are sweeter; there­fore, ye soft pipes, play on; / Not to the sensual ear, but, more endear’d, / Pipe to the spirit ditties of no tone.“6
Noch älter ist die Vorstellung einer Sphärenharmonie, einer musica mundana, die sich völlig von der musica humana und der musica instrumentalis unterscheidet. Cicero berichtete in „Scipios Traum“: „In stummem Staunen schaute ich dies [den Kreislauf der Sterne und Planeten] an, und als ich mich wieder gefasst hatte, rief ich aus: ‚Was bedeutet dies? Was ist dies für ein Ton, ein so starker und so süßer, der meine Ohren erfüllt?‘ Er [der Großvater] antwortete: ‚Das ist der Ton, der, in ungleiche Abstände auseinanderfallend, die aber doch jeder an seinem festgesetzten Teil auf Grund genauer Berechnung gegliedert sind, durch den Antrieb und die Bewegung eben der Kreise hervorgerufen wird und, hohe mit tiefen Tönen mischend, gleichmäßig mannigfache Harmonien erzeugt.“7 Wir hören diese Sphärenharmonie, so die antike Vorstellung, bloß nicht mehr, weil wir vom Lärm der Welt umgeben sind.
Sphärenmusik liegt also jenseits des Vorstellungsvermögens. Stellen wir sie uns vor, so holen wir sie unweigerlich in die Begrenztheit menschlicher Vorstellungskraft herunter. Dennoch: In dieser Vorstellungskraft, in der Klangimagination, in dieser spekulierten Musik liegt ein ungemeines Potenzial, liegt auch eine Musik, die jede Realisierbarkeit übersteigt.

1 Oliver Sacks: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn, Reinbek 2008, S. 45 f.
2 ebd. S. 266.
3 Karlheinz Stockhausen: Booklettext zur Aufnahme mit Markus Stockhausen, Acanta 43201, 1987; Booklettext zur Aufnahme des Werks mit Spieluhren, Stockhausen-Verlag, Kürten 1992.
4 Dieter Schnebel: Mauricio Kagel. Musik – Theater – Film, Köln 1970, S. 152.
5 vgl. Sacks, S. 311 f.
6 „Gehörte Melodien sind süß; doch diese ungehörten sind süßer: darum, ihr sanften Flöten, spielt weiter, nicht dem Sinnen-Ohr, sondern viel zärtlicher, dem Geist blast Lieder ohne Ton“.
7 Marcus Tullius Cicero: „Somnium Scipionis“; in: ders.: Über den Staat, deutsch von Walther Sontheimer, Stuttgart 1956, S. 143 f.

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