Edler, Florian

Analytisches Hören

Wahrnehmung und Stilbewusstsein in der Musik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 24

Dass wir überhaupt die Strukturiert­heit von Musik beim Hören wahrnehmen, gehört zu den universellen Befähigungen des Menschen und setzt kein spezielles Training voraus. Dagegen ist ein Erkennen, um was für Strukturen es sich handelt, wie das Musikstück gemacht ist und was es vermittelt, nicht möglich ohne Kenntnis stilspezifischer Eigenarten. Ein ­solches verständnisgeleitetes, Musik be- und hinterfragendes Wahrnehmen ist Ziel eines Theorie und Analyse integrierenden Gehör­bildungsunterrichts.

Ein erklingendes Stück sowohl in seiner Gesamtstruktur als auch in allen Details zu erfassen, mag bei überdurchschnittlichen Fähigkeiten der Rezipierenden oder geringer Komplexität des Gehörten gelingen. In der Regel aber fassen wir Musik partiell auf, sei es, dass wir uns einen Gesamtüberblick verschaffen oder aber bestimmte Stellen und Details stärker beachten als andere. Auf dieses Phänomen der selektiven Wahrnehmung reagieren pädagogische Bemühungen um das Hören auf zweierlei Art.
Zum einen lassen sich überprüfbare Fähigkeiten des Erfassens verbessern. Man kann üben und sich daran gewöhnen, Stücke nach möglichst wenig Hördurchgängen zu notieren, nachzusingen oder nachzuspielen. Dabei sollte bewusst sein, dass eine korrekte Notation, Reproduktion oder sprachliche Beschreibung eine präzise Wahrnehmung zwar beweist, entsprechende schwächere Leistungen aber nicht das Gegenteil. Denn nicht auszuschließen ist, dass Gedächtniselemente zwar „gespeichert“, jedoch nicht auf spezifische Weise „abrufbar“ sind.2
Zum anderen lässt sich die Selektion des Wahrzunehmenden dadurch steuern, dass bestimmte Aspekte der gehörten Musik sozusagen herausgefiltert werden. Hemmungen, Blockaden beim Reproduzieren oder Notieren, die der manchmal überfordernde Gesamteindruck des Gehörten auslösen kann, sind überwindbar, indem beispielsweise bei einem vierstimmigen homofonen Satz versucht wird, nur auf den Verlauf einer Bassstimme, nur auf das Vorkommen von Dreiklangsgrundstellungen oder nur auf den Unterschied von weiter und enger Akkord­lage zu achten.

Analytisches Hören umfasst sinnliches und kognitives Musikverstehen zugleich.

Vor allem aber repräsentiert die gezielt selektive, analytische Rezeptionsweise einen eigenen Zweig und zugleich eine übergeordnete Zielsetzung des Fachs Gehörbildung. Der verbreiteten Einschätzung dieses Bereichs nicht als selbstverständlicher Bestandteil einer musikalischen Grundausbildung, sondern als weiterführende Spezialdisziplin entspricht, dass Lehrpläne mancher Hochschulen einen höranalytischen Schwerpunkt erst im Hauptstudium vorsehen.3
Analytisches Hören umfasst sinnliches und kognitives Musikverstehen zugleich. Auch geschulte HörerInnen bewahren ihre spontane Berührtheit, bei der es sich im Sinne Hegels um eine „zweite Unmittelbarkeit“ handelt.4 Als Gegenstand von Höranalysen kommt Musik unterschiedlichster Art, sowohl hinsichtlich der Stilistik als auch der Komplexität, in Betracht. Aufgrund der Vielfalt an verfügbaren Stilen müssen bei der auditiven Wahrnehmung jeweils passende Kriterien gewählt werden, ist gegebenenfalls eine Akkomodation5 von Hörstrategien an die spezifischen Bedingungen ungewohnter Musikrichtungen erforderlich. Umgekehrt schärfen Hörerfahrungen in einem bestimmten Musikbereich die stilistische Sensibilität, sodass die Begegnung mit einem unbekannten Stück eines vertrauten Genres zum umso spannenderen Erlebnis werden kann.
Solche Wechselwirkungen von Wahrnehmung und Stilbewusstsein verdeutlichen die folgenden Beispiele, bei denen anhand von Musik aus diversen Epochen einige metho­dische Ansätze und Probleme zur Sprache kommen. Bei den zu Unterrichtenden werden Grundkenntnisse der allgemeinen Musiklehre und im Idealfall ein begleitender Theorie­unterricht vorausgesetzt – ein Punkt, auf den abschließend zurückzukommen ist.

1 Günter Kleinen: „Wahrnehmung“, in: MGG 2, Sachteil, Bd. 9, Kassel 1998, Sp. 1854 f.
2 Karin Poppensieker: Die Entwicklung musikalischer Wahrnehmungsfähigkeit (= Musikpädagogik. Forschung und Lehre, Band 23), Mainz 1986, S. 60.
3 Ulrich Kaiser: „Zur Gehörbildung in Deutschland“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 2/2-3 (2005), S. 198 f.
4 Hartmut Fladt: „Musikhören. Zwischen kognitiver und sinnlicher Erkenntnis“, in: Ludwig Holtmeier u. a. (Hg.): Musiktheorie zwischen Historie und Systematik. 1. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie, Dresden 2001, Augsburg 2004, S. 200.
5 Unter „Akkomodation“ ist im Sinne Jean Piagets eine Anpassung von Verhaltens- und Denkmustern an veränderte Umweltbedingungen zu verstehen.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2012.