Burzik, Andreas

Hören, fühlen, spielen

Wie Üben zu einem sich selbst organisierenden ­Prozess wird

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 30

“Üben im Flow” ist eine Methode, die darauf abzielt, MusikerInnen beim Üben eines Instruments in Zustände der tiefen Verschmelzung mit ihrem Tun zu führen – eine Methode, die immer wieder die Erfahrung ermöglicht, dass eine bewusste, willentliche Steuerung und Planung des Übeprozesses zugunsten eines sich von innen heraus entfaltenden, von der sinnlichen Wahrnehmung geleiteten Prozesses aufgegeben werden kann. Andreas Burzik beschreibt, wie diese “Selbst­organisation” am Instrument funktioniert und welche mentalen Herausforderungen dabei gemeistert werden müssen.

Vor einigen Jahren hat Wolf Singer, Leiter des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am Main, in einem Festvortrag mit dem schönen Titel „Das Gehirn – ein Orchester ohne Dirigent“ darauf hingewiesen, dass Selbstorganisation ein Begriff sei, mit dem wir – evolutionär bedingt – unsere Schwierigkeiten hätten; es sei ein Begriff, der sich uns nicht unmittelbar erschließe, und es sei ein Phänomen, dem wir nicht gelernt hätten zu vertrauen.1 Das liegt vor allem daran, dass Menschen Jahrtausende lang sehr gut mit ­dirigistischen Lenkungsmethoden gefahren sind und Phänomene der Selbst­organisation überhaupt erst seit ca. 50 Jahren wissenschaftlich erforscht und beschrieben werden können.2 Intuitiv tendieren wir dazu, bei komplizierten Vorgängen „zentrale Instanzen zu etablieren, die dann die vielen verteilten Prozesse regulieren und die Entwicklung des Gesamtsystems in eine gewünschte Richtung lenken sollen“.3
Es wundert daher nicht, dass es im Zusammenhang mit dem Begriff der Selbstorganisation immer wieder zu eklatanten Missverständnissen kommt. Üben als sich selbst organisierender Prozess? Wie, bitte schön, soll das denn gehen? Heißt das, dass man es sich beim Üben bequem machen kann? Dass man die Dinge einfach laufen lässt – und damit in völliger Beliebigkeit ­landet?
Das Gegenteil ist der Fall: Zustände der Selbstorganisation erfordern eine außerordentlich hohe Konzentration und benötigen eine deutlich höhere Aktivierung von Körper und Gehirn, als wir sie in unserem normalen Alltagsmodus haben. Darüber hinaus braucht Selbstorganisation klar definierte Grenzen, Leitplanken gewissermaßen, innerhalb derer sie sich eigengesetzlich entfalten kann. Selbstorganisation ist das Gegenteil von Beliebigkeit, aber eben auch das Gegenteil von steuernd eingreifender Kontrolle.
„Üben im Flow“ ist zunächst eine Übemethode und betrifft den unmittelbaren Fertigkeitserwerb am Instrument, also die Frage: Wie bekomme ich möglichst effektiv und mit Lust und Begeisterung meine Kunst in den Körper, sodass sie dann auf der Bühne sicher abrufbar wird? Sie ersetzt also in keiner Weise alle anderen wichtigen Elemente eines guten Instrumental- und Gesangsunterrichts wie z. B. das Wissen um die unterschied­lichen Stilepochen, die Harmonielehre, die formale Analyse des Stücks, das Wissen um seine zeitgeschicht­lichen Hintergründe, seine Entstehung im Rahmen der Biografie des Komponisten oder die interpretative Inspiration durch Lehrkräfte und große Künstlerpersönlichkeiten. Alle diese Aspekte einer soliden künstlerischen Ausbildung bilden den natürlichen Hintergrund der eigenen Übetätigkeit und fließen selbstverständlich mit in den Prozess der Erarbeitung eines Stücks ein.
Die Prinzipien des „Übens im Flow“ beeinflussen aber maßgeblich die Art und Weise, wie die jeweilige Instrumentaltechnik vermittelt wird. Grundsätzlich kann also alles geübt und gelehrt werden, was im Rahmen der ­Instrumental- und Gesangsausbildung üblich ist; entscheidend ist, wie es vermittelt und wie es geübt wird (siehe Kasten).
„Üben im Flow“ ist eine komplexe Methode, die hier nicht in allen ihren Feinheiten beschrieben werden kann. Und auch der bei dieser Art des Übens entstehende Zustand der Selbstorganisation erschließt sich in der Regel nicht durch das Lesen eines Artikels. Es gehört zu den Eigenheiten dieses besonderen Phänomens, dass man es, wie es der Zukunftsforscher Gerd Gerken einmal ausgedrückt hat, nur „per Erlebnis“ lernen kann, „und man kann es nur entdecken, indem man sich persönlich eingibt“.4

1 Wolf Singer: „Das Gehirn – ein Orchester ohne Dirigent“, in: Max Planck Forschung 2/2005, S. 16-18.
2 Hermann Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die ­Lehre vom Zusammenwirken, Reinbek 1995.
3 Singer, S. 18.
4 Gerd Gerken: Manager… Die Helden des Chaos. Wenn alle Strategien versagen, Düsseldorf 1993, S. 261.

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