Binner, Matthias / Hannah von Hübbenet

Ganz einfach „Für Elise“ lernen?

Möglichkeiten und Grenzen von kostenlosen Online-Tutorials

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 46

Dass Ihre Schüler YouTube kennen und nutzen, wissen Sie. Aber wissen Sie auch, welchen Einfluss das auf Ihren Instrumentalunterricht hat? Nein? Dann geben Sie doch einmal den Suchbegriff “piano tutorial” ein und arbeiten sich durch die aktuell 22.600 Treffer. Oder reichen Ihnen die 844 Angebote zu “Klavier lernen”? Die 64 Treffer zu “Für Elise lernen”? Auch noch zu viel? Dann lesen Sie diesen Artikel.

Wir haben für Sie vier der populärsten Tutorials zu Für Elise ausgewertet.1 Und während Sie noch lesen, verbringen Ihre SchülerInnen ihre Zeit vermutlich eher bei YouTube: Dort versprechen unzählige kostenlose Online- Tutorials, beliebte Musikstücke problemlos vermitteln zu können. Dazu führt eine Lehrperson vor, wie eine bestimmte Komposition zu spielen sei. Oft handelt es sich dabei um Laien, die ihre selbst gemachten Clips aus persönlichen Interessen (meist eine Mischung aus Musikliebe und Profilierungssucht) online stellen. Dazwischen finden sich aber auch professionell auftretende Anbieter, die ihre Clips kostenfrei zugänglich machen, um damit für weiterführende, kostenpflichtige Online-Angebote zu werben.2 Wie viele YouTube-Surfer tatsächlich zur Kreditkarte greifen, um sich bei den entsprechenden Seiten zu akkreditieren, bleibt Spekulation.3 Die Zugriffszahlen auf das kostenlose YouTube-Angebot hingegen sind veröffentlicht und beeindruckend. YouTube-Clips haben unbestreitbare Vorzüge: Sie sind kostenlos, zu jeder Zeit verfügbar, wiederholbar und unverbindlich nutzbar. Macht sie das zur zeitgemäßen, modernen Alternative zum traditionellen Musikunterricht, als die sie sich häufig verstehen?

Was soll Instrumentalunterricht leisten?

Instrumentalunterricht sollte grundlegende Techniken des Ensembleund Solospiels vermitteln, zur selbstständigen, reflektierten Aneignung notierter Werke sowie zur strukturierten, stilgebundenen Improvisation befähigen und dabei auf Schülerinteressen und Instrument angepasste Schwerpunkte setzen. Aus diesen Leitzielen ergeben sich konkrete Anforderungen: Ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, das sich durch Kommunikation, Interaktion und gegenseitiges Feedback reguliert; Lehrmethoden, die auf Lernziel, Schüler und Unterrichtsgegenstand angepasst sind und das aktive Musizieren des Schülers oder der Schülerin in den Mittelpunkt stellen; Vermittlung von Übestrategien, die selbstständig ohne Lehreraufsicht angewendet werden können; Einbindung der konkreten Unterrichtsergebnisse in musikgeschichtliche, musiktheoretische und instrumentaltechnische Zusammenhänge.4

Was erreichen Youtube-Tutorials?

YouTube-Tutorials erreichen bezüglich der soeben formulierten Anforderungen wenig. YouTube taugt zu vielerlei, aber nicht zur Anbahnung eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Ob sich der Lehrer persönlich in den Vordergrund stellt (wie in Clip 3) oder sich anonymisiert (wie in Clip 1, 2 und 4) – der Schüler kommt nur als Abstraktum vor.5 Auch wenn die User in ihren Kommentaren die Anbieter erstaunlich unkritisch als Lehr-Autorität akzeptieren,6 bleiben deren Antworten abstrakt und unpersönlich.7 Da der Schüler als großer Unbekannter fungiert, können auch keine Lehrmethoden auf ihn angepasst werden. Auch deshalb beschränken sich die Clips weitgehend auf eine einzige: das abgefilmte Vormachen in unter schiedlichen Kameraeinstellungen, die zuweilen per Split-Screen-Technik mit anderen Blickwinkeln, Textdateien und Werbelinks verknüpft werden. Solche Blickperspektiven sind den SchülerInnen im konventionellen Unterricht kaum zu ermöglichen. Ihr methodisches Potenzial verpufft aber, wenn die verschiedenen Bildteile nicht schlüssig mit den Lernzielen und Unterrichtsgegenständen verknüpft werden:

 

Um den Pedaleinsatz zu erläutern, braucht es weder ein Bild des Sprechers noch zwei verschiedene Perspektiven auf die rechte Spielerhand. Ähnlich verhält es sich auch in Clip 4, in dem erklärt werden soll, wie man „,Elise‘ mit Akkordblick spielen“ kann, da „in diesem Lied [sic!] ein paar Akkorde enthalten“ sind:8

Die Akkorde a-Moll und E-Dur werden per Texteinblendung und Off-Kommentar vorgestellt.9 In der Tat verdeutlichen die ersten acht Takte von Beethovens Thema vortrefflich die Beziehung von Moll-Tonika und Dur- Dominante. Das Elise-Thema böte sich deshalb als Unterrichtsgegenstand an, wenn als Lernziel ein erster Kontakt mit der Moll-Kadenz angestrebt wäre. Clip 4 setzt sich aber ein anderes Ziel: zum Spielen einer populären Klavierkomposition zu befähigen. Insofern präsentiert der Clip gleichzeitig zwei nicht adäquate Methoden (mündliches und schriftliches Erläutern – Abfilmen von Händen), die zwei unterschiedliche Lernziele verfolgen (Benennen von Dreiklängen – Spielen von klassischer Klavierliteratur), die an einem letztlich zufälligen Unterrichtsgegenstand (Für Elise) festgemacht werden.    Zur eigenständigen Erarbeitung können solche Tutorials nicht befähigen. Hier steht nicht das Musizieren des Schülers oder der Schülerin, sondern das der Lehrkraft im Mittelpunkt. Wenn überhaupt übers Üben gesprochen wird, dann in denkbar undifferenzierter Form.10 Auch eine Einbettung des Werks in musikalische Zusammenhänge fehlt komplett. Die Nennung des Komponisten ist schon die Ausnahme, Hinweise auf epochentypische Merkmale und sich daraus ableitende Spieltechniken fehlen durchweg. Nicht einmal konkrete werkspezifische Schwierigkeiten (z. B. der schwer zu überblickende 3/8-Takt oder die auftaktige Struktur des Themas) werden angesprochen. Im Gegenteil: Die von uns betrachteten Online-Tutorials suggerieren, dass man jedes beliebige Klavierstück auf dieselbe Art und Weise erlernen könnte – durch das Ton-für-Ton-Nachspielen des Ton-für-Ton-Vorgespielten (und den „Akkordblick“). Die Ergebnisse solcher Lernangebote lassen sich ebenfalls bei YouTube einsehen: Kinder drücken mit ihren Fingern auf Spielzeug-Instrumenten herum und filmen sich dabei.11

Ginge das besser?

Online-Tutorials ließen sich durchaus auf SchülerInnen zuschneiden, wenn das Lehrer- Schüler-Verhältnis bereits im wirklichen Leben etabliert ist. Konkreten Schülern könnten konkrete Übeaufträge per Online-Clip verfügbar gemacht werden. Kennt man seine SchülerInnen, ist die Verknüpfung passender Methoden, Lernziele und Unterrichtsgegenstände in Online-Tutorials nicht leichter oder schwieriger als im konventionellen Unterricht. Dabei ermöglichen die technischen Mittel des Internets faszinierende, neue methodische Ansätze: Ein Tutorial könnte z. B. Noten als Grafik präsentieren und mit einem Audiofile synchronisieren, dann die Lösung spieltechnischer Probleme im Hand-Close-up demonstrieren, unterschiedliche interpretatorische Ansätze per Video gegenüberstellen und schließlich konkrete Lernschritte vorschlagen. Diese Lernschritte könnte der Nutzer in einem selbst bestimmen Tempo vollziehen und der Lehrperson via Audiofile, Videoclip etc. demonstrieren. Die könnte dann per Mail oder Chat ein direktes Feedback geben. Solche Online-Tutorials wären zweifelsfrei eine wertvolle methodische Ergänzung und Alternative zum konventionellen Unterricht. Aber warum finden sich bei YouTube keine solchen Clips? Ganz einfach: Weil niemand sie produziert und kostenfrei zugänglich macht. Wir nicht – und Sie auch nicht. Bezüglich musikalischer Online-Tutorials bleibt „kostenlos“ und „professionell“ wohl ein unvereinbarer Gegensatz.12 Ob Ihre SchülerInnen das auch so sehen? Befragen Sie sie doch gelegentlich nach ihren Erfahrungen mit Online-Tutorials. Erforschen Sie mit ihnen gemeinsam, was sie dabei gelernt haben und was noch nicht. Das könnte Ihren Unterricht ergänzen und bereichern – ganz einfach und kostenlos.

1 „Anleitung Für Elise“ (über 12 000 Zugriffe), www.youtube.com/watch?v=A11ah_USSXs&feature=youtu.be, im Folgenden: Clip 1

„Für Elise für Anfänger“ (über 96 000 Zugriffe), im Folgenden: Clip 2; „Ganz einfach Klavier spielen lernen“ (www.openmusicschool.de, über 314 000 Zugriffe), im Folgenden: Clip 3; „Für Elise am Klavier lernen“ (www.playpiano-academy.com, über 5 000 Zugriffe), im Folgenden: Clip 4.
2 „Ganz einfach Klavier spielen lernen“, s. Anm. 1; „Für Elise am Klavier lernen“, s. Anm. 1.
3 Die Openmusicschool wirbt mit 20 000 Nutzern, was angesichts der öffentlich gemachten Zugriffszahlen zu hoch gegriffen scheint.
4 vertiefend dazu Anselm Ernst: Was ist guter Instrumentalunterricht? Beispiele und Anregungen, Aarau 2007.
5 „Ich freu mich sehr, dass ihr hier seid“ (Clip 3, 0:03), „In diesem Video zeige ich Ihnen, wie Sie den Song [sic!] ,Für Elise‘ umsetzen“ (Clip 4, 0:02).
6 stellabella888 kommentiert Clip 3: „Klasse gemacht, gut erklärt, sympathischer Kerl! Das rückt das Bild vom strengen Musiklehrer in gaaanz weite Ferne!“
7 „Und genau DAS ist meine Idee für openmusicschool. de! Danke dir!“
8 Clip 4 (1:32).
9 Clip 4 (1:53).
10 „So, das macht ihr jetzt ungefähr 200 000 Mal, dann klappt das auch ganz gut – nee, Quatsch“ (Clip 3, 1:09).
11 Clip 1 und Clip 2, s. Anm. 1.
12 Und die kostenlosen Ausschnitte der kommerziellen Online-Angebote geben keinen Anlass zur Annahme, dass „kostenpflichtig“ automatisch mit „professionell“ gleichzusetzen wäre. Offensichtlich erhalten zahlende Kunden eine engere, individuellere Betreuung; die Qualität der eigentlichen Lehrfilme unterscheidet sich aber wohl nicht vom Gratis-Angebot.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2012.