Grimmer, Frauke

Wie Pianisten zu ­Künstlern werden

Klavierausbildung im 20. und 21. Jahrhundert miterlebt

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Deutsche Literaturgesellschaft, Berlin 2010
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 53

Die Veröffentlichung Frauke Grimmers beruht auf „Teilnehmender Beobachtung“, einer Methode, die zunächst Ethnologen mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund entwickelten, um ihre Erfahrungen aus dem Zusammenleben mit meist außereuropäischen Kulturen möglichst neutral beschreiben zu können. Die Forscher wollen nicht durch Interaktion mit den erforschten Kulturen oder Personen allzu viel Einfluss auf deren gedankliche Welt nehmen.
Gelten nun Pianisten neuerdings als Exoten im eigenen Lande? Nun, wenn wir ehrlich sind, müssen wir eingestehen, dass die akademischen Ausbildungen zu Künstlern selbst in einer Zeit des schwindenden bürgerlichen Konzertmarkts noch den Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts verpflichtet sind. Positiv betrachtet bedeutet derartige Weltfremdheit eine nahe liegende Koinzidenz von Repertoire, Interpretationszugang und Lehrmethode, auch wenn wir dem Manko begegnen, dass wir das Publikum des 19. Jahrhunderts verloren haben und nicht mehr ausgraben können.
Doch bestehende Systeme wie Musikhochschulen und deren dort zu Ansehen gelangte ProfessorInnen verlassen ungern ihre Bahnen, wie sie sinnvollerweise für frühere Generationen entwickelt worden waren. Der Verfasser dieser Rezension hat selbst an einer deutschsprachigen Musikhochschule miterlebt, dass ein „Aushängeschild“ einer Hochbegabtengruppe zwar Liszts Paganini-Etüden fulminant darbot, aber beim Hören keine große von einer kleinen Terz unterscheiden konnte. Der zuständige Klavierprofessor freilich hinderte die Nachwuchs-Pianistin am Besuch von „Nebenfächern“, weil sie „vom Üben abhielten“.
In diesem Umfeld betrieben die Autorin und ihr Team „pianistische Feldforschungen“, versuchten Wege, didaktische Konzepte, Lehrertypen und charakteristische Unterrichtssituationen zu protokollieren. Genannt werden auch vorsichtige Anfänge der Musikhochschulen, ihren Ausbildungsgängen tragfähige Marktchancen zu bereiten. Da man weltberühmte Klavierpädagogen bei ihrer Arbeit beobachten darf, wurden deren Namen verändert, „unkenntlich gemacht“: Sie werden mitunter recht kritisch gesehen. Grimmer scheut sich nicht Stellung zu beziehen, pädagogische Schwächen zu benennen, Fehlverhalten der Interaktion zu schildern.
Insgesamt entsteht ein lebendig zu lesendes Spektrum gegenwärtiger Pianistenausbildung an Musikhochschulen. Nur kurz erwähnt werden die Probleme, die den vielen als Pianisten ausgebildeten Musikern aufgrund ihrer oft fehlenden pädagogischen Fähigkeiten im Berufsalltag als Lehrkräfte begegnen können. Aber das ist ja auch nicht Aufgabenstellung der Publikation. Das Buch kann dazu anregen, im Geschilderten Parallelen zu eigenen Erfahrungen zu erkennen und auf diese Weise den persönlichen Unterrichtsstil wieder einmal zu überdenken.
Wolfgang Brunner