Großmann, Linde

Musik zum Lehren und Lernen

Über Qualitätsmerkmale pädagogischer Literatur

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2011 , Seite 12

Ist Unterrichtsliteratur “richtige” Musik bzw. was macht “richtige” Musik zu guter Unterrichtsliteratur? Im Bewusstsein, dass die Wahl von Stücken für den Unterricht immer auch von der individuellen Arbeits­weise des jeweiligen Lehrers be­stimmt wird, sollen im nachfolgenden Artikel einige wichtige Merk­male guter Unterrichtsliteratur am Beispiel von Klavierstücken beschrieben werden.

Pädagogische Literatur hat nicht unbedingt einen guten Ruf bei professionellen Musikern und Musikforschern. Symptomatisch sind z. B. die Vorbehalte Adornos gegenüber pädagogischer Musik. Ein Blick in manche neuere Instrumentalschule scheint diesen Meinungen Recht zu geben. Andererseits haben bedeutende Komponisten der Vergangenheit und der Gegenwart immer wieder Stücke komponiert, die im Unterricht auch mit weniger fortgeschrittenen SchülerInnen verwendet werden können und oft sogar speziell dafür geschrieben wurden (Bach, Mozart, Schumann, Chopin, Tschaikowsky, Bartók, Hindemith, Casella, Prokofjew, Eisler, Kurtág u. v. a.). Sogar von Anton Webern gibt es ein zauberhaftes Kinderstück.
Nicht immer bietet der Name des Komponis­ten jedoch die Gewähr dafür, dass die Stücke den Bedürfnissen der Lernenden optimal gerecht werden. Auch die Kürze und Übersichtlichkeit eines Stücks ist nicht immer ein ausreichendes Kriterium für die Verwendbarkeit im Unterricht. So erfordern z. B. die Ländler von Schubert oder ein Großteil der Bagatellen op. 119 von Beethoven schon vielfältige musikalische Erfahrungen, ohne die sie nicht ihrer Bedeutung entsprechend dargestellt werden können. Ich gestehe, dass ich sogar einige Stücke aus dem ersten Teil des Albums für die Jugend von Robert Schumann („Melodie“, „Stückchen“, „Trällerliedchen“) unabhängig von ihren musikalischen Qualitäten für wenig geglückte Anfängerstücke halte, da sie den SpielerInnen Aufgaben stellen, die zu diesem Zeitpunkt nur schwer befriedigend lösbar sind (gesangliche Melodie in engem Tonraum, abgestufte Lautstärke zwischen rechter und linker Hand bei gleichzeitigem Spiel der Hände, doppelt so viele Töne in der linken Hand wie in der rechten, latente Zweistimmigkeit in den Achtelnoten der Begleitung). Bis heute gelingt es mir außerdem nur mit Mühe, sie im Gedächtnis klar ausei­nanderzuhalten, zu ähnlich scheinen sie durch gleiche Tonart, Taktart, Bewegung und vergleichbaren Klaviersatz.
Im Vorwort zu ihrer Klavierschule schreibt die namhafte russische Pädagogin Anna Artobolewskaja, dass sie selbst und ihre SchülerInnen fast alle Stücke im Gedächtnis behalten hätten, die im Verlauf von vielen Unterrichtsjahren (die Rede ist von elf bis 15 Jahren) jeweils erarbeitet wurden.1 Auch wenn das nur zum Teil stimmen sollte, wäre es nicht möglich gewesen, wenn sich die Stücke in ihrem Charakter und ihrer kompositorischen Struktur nicht wesentlich voneinander unterschieden hätten. Eine Bedingung erfolgreichen Unterrichtens scheint mir deshalb darin zu bestehen, das Repertoire so zusammenzustellen, dass eventuelle instruktive Absichten des Komponisten oder der Lehrkraft mit den musikalischen Ideen eine innere Einheit bilden. Im Folgenden werden deshalb einige Stücke vorgestellt, die für mich zu „Schlüsselwerken“ in der Unterrichtspraxis geworden sind, weil sie dieser Forderung in vorbildlicher Weise gerecht werden und damit helfen können, Kriterien für gute Unterrichtsliteratur zu definieren.

1 Anna Artobolewskaja: Die erste Begegnung mit der Musik [Klavierschule, russ.], Moskau 1987, S. 7.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2011.