Ulrich, Brigitte

Entdeckung ungeahnter Potenziale

Elemente der Arbeit Elsa Gindlers und ihr Einsatz im ­Instrumentalunterricht

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 5/2011 , Seite 34

Elsa Gindlers Arbeit ist als Körper­arbeit bekannt.1 In diesem Beitrag werden jedoch keine Körper- oder Achtsamkeitsübungen vorgestellt, sondern Erfah­rungen aus der Körperarbeit mit konkreten Problemen der Schülerinnen und Schüler verknüpft.

Eine Violaschülerin übt eine Etüde von Franz Wohlfahrt, ein Perpetuum-mobile-Stück.2 Im langsamen Tempo läuft alles sehr gut, auch Klang und Intonation. Dann hat sie den Wunsch, die Etüde schneller zu spielen. Alle Versuche in dieser Richtung enden in einem verhetzten Spiel unter großem Druck, das immer wieder langsamer wird oder abbricht, nicht mehr gut klingt und unsauber gerät. Und dies, obwohl das Stück sehr gut sitzt und die technische Realisierung von Temposteigerungen (z. B. kürzere Striche und kleinere Bewegungen) bekannt ist. Ich bemerke daraufhin zur Schülerin, dass, wenn man vom Gehen ins Laufen kommen möchte, etwas in einem passieren muss, und frage sie, ob sie dieses Körpergefühl empfinden könne. Sie bejaht dies und ich erkläre ihr, dass etwas Ähnliches in ihr passieren müsse, wenn sie vom Langsamspielen ins Schnellspielen kommen möchte. Schon der erste Versuch in dieser Richtung überrascht die Schülerin sehr, da es auf einmal „läuft“, Bogeneinteilung und Bewegungen ordnen sich wie von selbst, Klang und Intonation sind auch in diesem raschen Tempo gut.
Ein Violinschüler übt Leo Portnoffs Russische Fantasie Nr. 3, die mit einer Pesante-Passage im Forte und Fortissimo endet. Diese Passage wird trotz unterschiedlicher Bemühungen (z. B. Kontaktstelle näher am Steg und mehr Bogenkontakt zur Saite) weder pesante noch laut. Ich frage den Schüler, ob er manchmal etwas Schweres heben würde. Wir finden heraus, dass er schon einmal Getränkekisten getragen hat. Jetzt bitte ich ihn, sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, die Getränkekiste zu tragen, und mit dieser Körperspannung die Pesante-Passage zu spielen. Er ist höchst erstaunt, sich beim Geigen so stark beteiligen zu sollen, aber das Ergebnis ist überzeugend: Der Charakter der Stelle stimmt jetzt, es klingt pesante und laut, sein Spiel ist viel klarer und strukturierter als zuvor. Jetzt müssen wir nur noch für das Fortissimo am Schluss eine weitere Getränkekiste „draufpacken“, dann klappt auch das.

Wirkfaktoren

Betrachtet man die Ausgangssituation im ers­ten Beispiel, so zeigt die Schülerin sehr große Bereitschaft und Einsatz, geigentechnische Hilfen wie z. B. günstige Kontaktstelle, Bogenlänge, Bogengeschwindigkeit etc. umzusetzen. Durch das gesteigerte Tempo ist es ihr allerdings nicht mehr möglich, alles genauso wie im langsamen Tempo zu realisieren. Dadurch entstehen Stress und ein großer psychischer Druck – ähnlich der Situa­tion, in der sich ein entkräfteter, angespannter Langstreckenläufer kurz vor dem Ziel befindet. Angeregt durch die Vorstellung, wie es ist, vom Gehen in ein angenehmes Laufen zu kommen, erlebt die Schülerin, dass es möglich ist, auch ohne Druck etwas in einer höheren Geschwindigkeit zu tun: laufen – wie z. B. Jesse Owens – oder auch Bratsche spielen. Zusätzlich wird deutlich, dass das schnelle Spielen nicht allein durch das Befolgen von Spielanweisungen gelingt, sondern in erster Linie durch einen veränderten körperlichen Zustand, analog der Veränderung des körperlichen Zustands, die nötig ist, um vom Gehen ins Laufen zu kommen. Das ist hier der Wirkfaktor.

1 zur Arbeit und Person Elsa Gindlers s. Marianne Steffen-Wittek: „Die ,Befreiung‘ des Körpers. Die bewegungsexperimentellen Körperverfahren von Elsa Gindler, Dore Jacobs und Gerda Alexander wirken bis in unsere Zeit“, in: Üben & Musizieren 2/2011, S. 12-15.
2 Um sehr konkret und anschaulich zu bleiben, werden alle Beispiele ausschließlich aus meinem Violinunterricht sein. Sie lassen sich aber in der Regel gut auf andere Instrumente übertragen.

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