Bajorat, Nicolas

Raus aus dem Elfenbeinturm

Kammermusik im Klavierunterricht

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2011 , Seite 28

Das Klavier ist Melodie- und Begleit­instrument in einem, PianistInnen sind daher nicht auf eine Begleitung angewiesen. Kammermusik ist jedoch eine wichtige Erfahrung für alle SchülerInnen. In diesem Beitrag geht es um Stol­persteine, denen man im Kammermusikunterricht mit KlavierschülerInnen begegnen kann, und ihre Vermeidung.

Hannah und Felix sitzen nebeneinander am Klavier. Auf dem Notenpult steht Alte irische Weise von Anne Terzibaschitsch. „Fangt an!“, fordere ich sie auf. Beide schauen sich etwas fragend an. Hannah übernimmt das Kommando, zählt „drei, vier“ und sie beginnen gleichzeitig zu spielen. Das Stück steht im 6/8-Takt…
Laura sortiert ihre Gesangsnoten und schaut erwartungsvoll zu Sophie, die noch eben die Klavierbank in die richtige Höhe schraubt. Ein Mozart-Lied soll erklingen: Der Zauberer. Sophie und ich haben den Klavierpart gründlich vorbereitet, sie hat ihn gut geübt, das habe ich gerade noch deutlich gemerkt. Jetzt gibt Laura einen klaren Einsatz, Sophie spielt gut mit, doch was ist los? Die eben noch sicheren Akkorde sind falsch, der schnelle Lauf am Ende, der vor Kurzem noch bombensicher in diesem Tempo ging, klemmt. Schon nach einer Strophe fliegt Sophie raus.
Dies sind zwei Erfahrungen, die ich als Kammermusik unterrichtender Lehrer gemacht habe. Hannah und Felix sind beide zehn Jahre alt; ihr Zusammenspiel war ihre erste Erfahrung im gemeinsamen Musizieren, vom vierhändigen Spiel mit dem Lehrer abgesehen. Laura ist 21, Sophie 19 Jahre alt. Laura als Sängerin ist an eine Klavierbegleitung gewöhnt, Sophie hatte zuvor nur wenige Gelegenheiten, sich im weiten Feld der Kammermusik auszuprobieren.

Auf einmal ist alles anders

Beide Beispiele zeigen: Macht man Kammermusik, dann ist auf einmal vieles anders. Es reicht nicht mehr aus, den gelernten und fleißig geübten eigenen Part richtig und schön wiederzugeben. Denn dieser ist auf einmal nur noch ein Teil des Puzzles, er will eingepasst werden in einen Gesamtzusammenhang. Ein Großteil der Aufmerksamkeit wird anderweitig gebunden, will man gemeinsam musizieren und Rhythmus, Tempo, Dynamik oder Phrasierung koordinieren. Häufig ist zu beobachten, dass diese neue Aufmerksamkeitsebene zu Verwirrungen führt: Entweder sind musikalische Scheuklappen zu bemerken und die eine Spielerin merkt nicht, was der andere tut, oder man hat ein „offenes Ohr“, ist aber mit dem eigenen Part überfordert.
Als Kammermusiker muss man Lösungen finden für Probleme, die sich beim solistischen Spiel nicht stellen. Und dies ist gerade für PianistInnen ein Problem, denn im Gegensatz zu anderen InstrumentalistInnen sind diese nicht auf eine Begleitung angewiesen. Ein Geiger braucht häufig eine Klavierbegleitung, ebenso ein Flötist und eine Sängerin. Am Klavier hingegen kann man theoretisch ein musikalisches Leben lang ohne PartnerIn auskommen. Kammermusikerfahrungen müs­sen im Klavierunterricht also strategisch herbeigeführt werden.

Singen und Atmen

Hannah und Felix suchten nach einem Weg, um gleichzeitig zu beginnen. Ich hatte ihnen nichts vorgegeben, weil ich sehen wollte, auf welche Lösung sie von selbst kommen würden. Ihre eher unkonventionelle Art einen Einsatz zu geben funktionierte. Im Anschluss an diesen ersten Durchgang ließ ich sie ihre jeweilige Stimme singen: Hierbei konnten sie ohne Einzählen gleichzeitig beginnen. Ihnen war jedoch nicht klar, dass dies am Vorgang des Einatmens lag.
Als Übung machten wir zu dritt eine Atemkette. Jeder von uns atmete in einem langsamen Metrum eine halbe Note lang aus und sollte dabei direkt an den Vorgänger anschließen. Zunächst hatten beide Probleme, das Aus­atmen pünktlich zu beginnen, weil sie das notwendige vorhergehende Einatmen nicht koordinieren konnten; doch nach kurzer Zeit hatten sie sich daran gewöhnt. Als nächste Stufe bauten wir Pausen ein – ausatmen für die Dauer einer halben Note, eine Viertelnote Pause, der nächste atmet eine halbe Note lang aus usw. So ergab sich bald ein Ein­atmen über die Dauer einer Viertelnote, der Pause nämlich. Diese Atemübung ließ ich sie danach für den Beginn des Stücks probieren – sofort konnten sie sie übernehmen. Auch das Anpassen an die notwendigen halben Takte des 6/8-Takts klappte problemlos.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2011.