Behschnitt, Rüdiger

Es gibt noch Chancen in „Brösel Town“

Der Musikschulkongress des VdM in Mainz setzte ein selbstbewusstes Ausrufezeichen

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2011 , Seite 36

Wer sich dem Congress Centrum Mainz am Eröffnungstag des Kongresses vom Domplatz her näherte, wurde vom nicht zu überhörenden Auftritt der Trash-Drumming-Gruppe der Musikschule der Stadt Koblenz in den Bann gezogen: jugendliche MusikschülerInnen, die unter der Leitung von Alex Sauerländer auf umgedrehten Regentonnen bewundernswert synchron komplexe Rhythmen trommelten. War das angesichts des Kongressmottos „Musikschule – Bildung mit Zukunft!“ etwa schon ein Ausblick auf die Zukunft unserer Musikschulen: Regentonnen statt bzw. als Inst­rumente?
Doch die Redner bei der Eröffnungsveranstaltung ließen keinen Zweifel daran, wie ernst es ihnen mit dem selbstbewusst gesetzten Ausrufezeichen des Kongressmottos ist. Der am Vortag von der Bundesversammlung des VdM in seinem Amt bestätigte Bundesvorsitzende Winfried Richter eröffnete den „größten Kulturkongress Deutschlands“ unter anderem mit dem Hinweis auf die ebenfalls am Vortag verabschiedete „Mainzer Erklärung“ des VdM: Ganztagsschulen, so Richter, müssten sich öffnen für außerschulische Angebote. „Musikalische Bildung braucht Zeiten und Räume in der Schule“ lautet das Motto der „Mainzer Erklärung“, in der der VdM fordert, dass musizierende Schülerinnen und Schüler nicht auf die Verliererstraße der Ganztagsschule und der verkürzten Gymnasialzeit (G8) geraten dürften. Die Politik auf Kommunal- und Länderebene wird aufgefordert, „geeignete ordnungspolitische und infrastrukturelle Maßnahmen zu entwickeln, durch die die öffentlichen Musikschulen in ihrer Arbeit gestärkt werden“.
Während der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel (SPD) die kulturelle Tradition der Stadt Mainz und die städtische Förderung des Peter Cornelius Konservatoriums anpries, dabei jedoch zu erwähnen „vergaß“, dass das Mainzer Staatstheater gerade gegen existenzbedrohende kommunale Finanzkürzungen zu kämpfen hat, war die Rede des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD) von anderem Kaliber: Dieser konnte zu Recht stolz vermelden, dass die Mittel für die Musikschulen in Rheinland-Pfalz seit 1991 von 500000 auf 2,1 Millionen Euro jährlich erhöht wurden und dass Rheinland-Pfalz das einzige Bundesland ist, in dem die neunjährige Gymnasialzeit (G9) weiterhin die Regel ist. Auch in seiner inhaltlichen Argumentation für die Wichtigkeit musikalischer Bildung konnte der ehemalige Klarinettenschüler Kurt Beck überzeugen: Unsere immer komplexer werdende Welt, so Beck, erfordere in erhöhtem Maß sinnliches Einschätzungsvermögen, die sich stark verändernde Altersstruktur mehr denn je die Fähigkeit zur Kreativität. – Wer wollte ihm da widersprechen?
Auch Festredner Reinhart von Gutzeit, der mit seiner ebenso unterhaltsamen wie tiefsinnigen Rede das Publikum des Mainzer Congress Centrums im Sturm eroberte, zog vor den bemerkenswerten Politikerworten Kurt Becks spontan den Hut. Dies seien „die positiven Auswirkungen langjährigen Klarinettenunterrichts“, so von Gutzeit in Anspielung auf die musikalische Vita des Ministerpräsidenten. Überhaupt waren es besonders die „großen Drei“, die an diesem Kongress hervorragten: die Eröffnungsrede von Reinhart von Gutzeit, Rektor der Universität Mozarteum Salzburg und Ehrenvorsitzender des VdM, sowie die beiden Plenum-Veranstaltungen am darauf folgenden Tag von Peter Röbke von der Wiener Musikuniversität zur Identität der Musikschullehrkräfte und von Stefan Theßenvitz, Diplom-Betriebswirt und Managementberater, zu den künftigen Herausforderungen von Musikschulen. Der räum­liche (Österreich) und inhaltliche (change management) Blick „von außen“ öffneten die Hirne der Anwesenden und brachten frisches Gedankengut in die Runde.
„Was haben Sie doch für ein geiles Produkt!“, rief Stefan Theßenvitz dem Publikum zu und erläuterte in seinem hochinteressanten Vortrag, dass etwa 12 bis 16 Prozent in Deutschland ein Instrument spielten, die Markterschließung durch die Musikschulen aber gerade einmal bei 1,2 Prozent liege. Es gäbe somit Wachstumspotenziale in allen Altersklassen. Dabei sollten gerade die Musikschulen das gemeinsame Musizieren als Alleinstellungsmerkmal hervorheben. Voraussetzung sei jedoch eine Analyse der eigenen Situation, des Standorts und des Umfelds. Befindet sich meine Musikschule in einem aufstrebenden urbanen Ballungsraum (von Theßenvitz als „Boom City“ bezeichnet), in einer wohlhabenden ländlichen Region ­(„Kuschel Country“) oder doch eher in einer städtischen Umgebung mit schwindender Kaufkraft und Bevölkerung („Brösel Town“), womöglich gar in einer sich entvölkernden ländlichen Region („Cheap Desert“)? Das große Gelächter im Saal konnte nicht über die ernste Lage so mancher Musikschule in „Cheap Desert“ hinwegtäuschen. Doch Theßenvitz betonte, dass jedes Umfeld Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen für eine Musikschule bereithalte. Diese zu erkennen und wenn nötig Veränderungsprozesse einzuleiten, sei die wichtigste Aufgabe für MusikschulleiterInnen.
Die Arbeitsgruppen und Kurse konnten mit dem hohen Niveau der drei Vorträge leider nicht immer mithalten. So überforderte Referentin Karin Janner ihr Publikum zum Thema „Social Media und Musikschule“ mit einem Feuerwerk an technischen Begriffen und PowerPoint-Präsentationen. Wer nicht bereits über ein solides Grundwissen verfügte, war zwischen „RSS Feed“, „status update“ und „social bookmark“ rettungslos verloren. Und wie so oft – gerade bei diesem Thema – ­wurde die Sinnfrage bzw. die Frage nach
dem „Warum“ gar nicht erst gestellt. Wozu braucht eine Musikschule einen Facebook-Auftritt? Und falls die Frage positiv beantwortet wurde: Wie kann sie ihn inhaltlich verantwortungsbewusst und sinnvoll nutzen, ohne sich dem in Online-Netzwerken oft vorherrschenden inhaltsleeren Geplapper anzupassen? Beispiele für Facebook-Seiten von Musikschulen, die Präsentationsfolien von Karin Janner und weitere Informationen sind zu finden unter www.kultur-projekte.net/musikschulkongress.
Gleich sechs Personen bevölkerten das Po­dium bei der Diskussionsrunde „JeKi, MoMo, JEKISS und was dann?“, die wie erwartet großen Zuspruch erfuhr. Nach dem Wunsch der Veranstalter sollte es diesmal nicht um Kritik an der prinzipiellen Ausrichtung oder Durchführung der Projekte gehen, sondern um die Frage, wie es für die Kinder im Anschluss an die genannten Projekte weitergeht bzw. weitergehen sollte. Das Publikum jedoch folgte dem Veranstalterwunsch nicht und diskutierte, nachdem die knapp bemessene Zeit von einer Stunde mit den Wortbeiträgen der sechs Podiumsteilnehmer quasi aufgebraucht war, in den wenigen verbleibenden Minuten engagiert über die methodische Umsetzung von JeKi und die bekannten Probleme, die sich daraus ergeben.
Die „großen Themen“ JeKi und Ganztagsschule bestimmen weiterhin die Diskussion in der Musikschulszene, so der Eindruck vom mit über 1500 TeilnehmerInnen höchst erfolgreichen Bundeskongress des VdM. Genau hinzuhören und die Probleme und Fragen der Musikschullehrkräfte noch stärker und mit mehr Zeit im Kongressprogramm zu berücksichtigen – das ist die Herausforderung für die Planer des nächsten Bundeskongresses, der vom 26. bis 28. April 2013 in Bamberg stattfinden wird.

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