Schulte im Walde, Christoph

Musikschullehrkräfte sind keine Lückenbüßer

Gespräch mit Winfried Richter, Bundesvorsitzender des Verbands deutscher Musikschulen

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 4/2011 , Seite 44

Dr. Winfried Richter ist Klavierlehrer und promovierter Musikwissenschaftler. Er unterrichtete zunächst Klavier an der Musikschule Kiel und war zusätzlich Referent für Öffentlichkeitsarbeit des VdM-Landesverbands Schleswig-Holstein. Während dieser Zeit war er beim Landesmusikrat Schleswig-Holstein auch für das Landesjugendorchester zuständig. Seit 1986 ist Winfried Richter Leiter der Musikschule Pinneberg, seit 1992 Landesvorsitzender der Musikschulen in Schleswig-Holstein. Die Bundesversammlung des VdM wählte ihn 2005 zu ihrem Bundesvorsitzenden und bestätigte ihn am 19. Mai 2011 bereits zum zweiten Mal in seinem Amt. Winfried Richter ist Mitglied in den Bundesfachausschüssen Musikalische Bildung und Neue Musik des Deutschen Musikrats.

Herr Richter, waren Sie selbst Musikschul-Schüler?

In meiner eigenen Ausbildung hat die Musikschule noch keine Rolle gespielt. Bedenken Sie: In mein Geburtsjahr fällt auch die Geburtsstunde des Musikschulverbands in Deutschland. Das war 1952. In meinem Heimatland Schleswig-Holstein war zu dieser Zeit die Musikschul- Landschaft noch Brachland. Nach meinem Studium wurde ich mit der Materie der Musikschularbeit als Referent des nördlichen Landesverbandes vertraut und wurde hervorragend in das Wirkungsfeld dieser groß – artigen Bildungseinrichtung einge arbeitet. Derart vor – bereitet war ich ermutigt, mich als Musikschulleiter zu bewerben. Als ich dann die Stelle in Pinneberg antrat, dachte ich, das würde ich mal für ein halbes Jahr machen …

Das war vor wie vielen Jahren?

Das ist 25 Jahre her (lacht). Tatsächlich hat mich diese wunderbare Tätigkeit immer mehr begeistert und wurde zum Beruf meines Lebens. Schließlich wurde ich Landesvorsitzender des VdM Schleswig-Holstein und bin es fünfzehn Jahre gewesen – und jetzt seit sechs Jahren Bundesvorsitzender. Dr. Winfried Richter ist Klavierlehrer und promovierter Musikwissenschaftler. Er unterrichtete zunächst Klavier an der Musikschule Kiel und war zusätzlich Referent für Öffentlichkeitsarbeit des VdM-Landesverbands Schleswig-Holstein. Während dieser Zeit war er beim Landesmusikrat Schleswig- Holstein auch für das Landesjugendorchester zuständig. Seit 1986 ist Winfried Richter Leiter der Musikschule Pinneberg, seit 1992 Landesvorsitzender der Musikschulen in Schleswig- Holstein. Die Bundesversammlung des VdM wählte ihn 2005 zu ihrem Bundesvorsitzenden und bestätigte ihn am 19. Mai 2011 bereits zum zweiten Mal in seinem Amt. Winfried Richter ist Mitglied in den Bundesfachausschüssen Musikalische Bildung und Neue Musik des Deutschen Musikrats.

Was macht Ihnen an dieser Aufgabe Spaß?

Erst mal die Arbeit als Musikschulleiter: Die macht unglaublich viel Freude, weil Sie viele verschiedenste Dinge machen. Von Öffentlichkeitsarbeit bis zum Näschenputzen bei den Kindern. Da ist wirklich alles dabei. Und man kann vieles gestalten. Natürlich zählt auch regelmäßig Ärger mit der Politik dazu. Immer muss irgendwo gekürzt werden. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mal nicht hieß: „O Gott, was wird aus den Musikschulen?“ Aber tatsächlich – da bin ich bei der Verbandsarbeit – haben wir im Moment Veränderungen, die eine ganz andere Qualität haben als den Aufbau eines funktionierenden Musikschulsystems. Seinerzeit war es ein Aufkrempeln der Ärmel nach dem Motto: Wir wollen Musikschulen etablieren und zeigen, dass wir mehr leisten, als Instrumental- und Vokalunterricht anzubieten. Zum umfassenden pädagogischen Ausbildungsangebot an den öffentlichen Musikschulen müssen Ensemblespiel, Ergänzungsfächer, Elementare Musikpädagogik und die studienvorbereitende Ausbildung zählen. Ein strukturiertes Bildungskonzept, das auf Kontinuität von Lernprozessen angelegt ist, wurde entwickelt. Musikschule ist mehr als nur ein Angebot von Unterricht im Instrumental- oder Vokalfach.

… in Form von 45 Minuten Einzelunterricht …

Genau das wäre eine Beschreibung, die an der Aufgabe der Musikschule vorbeigeht. Die gegenwärtige Situation macht die Vielfalt der Tätigkeitsfelder der öffentlichen Musikschule deutlich, die sich aus dem weiland entstandenen Ansatz segensreich entfaltet haben. Unser Kongress in Mainz hat in dem Zusammenhang gezeigt, dass wir eine neue Dimension von zeitgemäßer Musikschularbeit eröffnet haben: Einerseits erreicht der vorschulische Bereich eine ganz neue Qualität, wie er in dem vom Bundesministerium geförderten Bildungsplan „Musik von Anfang an“ dargestellt ist. Hier ist die Kooperation mit Kitas zu einem wesentlichen Bestandteil geworden. Dann geht es mit Kooperationen an den Grundschulen und in der Sekundarstufe weiter. Dabei spielt der Ganztagsbereich der allgemein bildenden Schule eine gewichtige Rolle. Die Positionspapiere der kommunalen Spitzenverbände haben unmissverständlich herausgestellt, dass Musikschulen in unserem Bildungssystem unverzichtbar sind. Der Rahmen für unsere Arbeit ist gestaltet. Aktuell geht es auch darum, dies nach innen zu denken: Musikschulen müssen Prozesse der Breiten- und Spitzenförderung harmonisieren. Veränderungen sind notwendig und müssen gesteuert werden. Der Kongress in Mainz belegte eine eindrucksvolle Bereitschaft der Musikschulen, diese Herausforderung konstruktiv anzugehen. Eine wunderbare Aufbruchstimmung war in dieser Hinsicht in Mainz auszumachen.

Die Musikschule Pinneberg, die Sie leiten, hat rund 2 000 Schüler, ist also nicht gerade klein …

… nicht sehr klein, aber es gibt weit größere. Dennoch sind die neuen Entwicklungen in Pinneberg ebenso relevant wie in einer Großstadt. Vielleicht wird in einer kleineren Kommune und ganz besonders auf dem Land fassbarer, wie sehr das kulturelle Leben dort von der Arbeit der Musikschule gefördert und mitgestaltet wird. Sie ist das Zentrum fürs Musikleben. Faszinierend daran ist, wie eine qualifizierte musikpädagogische Einrichtung als Quelle fürs Laienmusizieren, für den professionellen Musikernachwuchs und für die kulturelle Teilhabe der Menschen zu sprudeln vermag.

Was stellen Sie fest, wenn Ihr Blick auf die Menge der Aktivitäten vom Beginn Ihrer Tätigkeit bis heute fällt?

Das lässt sich anhand der jüngsten Entwicklungen meines Erachtens leicht plausibel machen und gestattet eine Zukunftsvision. Musikschulangebote erfahren zunehmend unter den verschiedensten Aspekten eine bildungspolitische Instrumentalisierung. Vorschulische Musikschulangebote sollen der Sprachförderung, der Integration, der Entwicklung der Persönlichkeit und Lernbereitschaft usw. dienen. Selbst die öffentliche Förderung fließt manchmal unverhofft, wenn sich eine Gesellschaft im Medaillenspiegel des Bildungsvergleichs oder zur Selbstdarstellung verbessern möchte. Was könnte also näher liegen, als diesen außermusikalischen Bereich der Musikschularbeit ins Zentrum zu rücken? Nicht die Musik, sondern der in der Gesellschaft funktionierende Mensch ist Gegenstand solcher Überlegungen. Einen analogen Hintergedanken finden wir in der Dis – kussion, wenn es um Musizierangebote in den Grundschulen geht. Bis hin zu Angeboten in Seniorenheimen, die der Demenz entgegensteuern sollen, finden sich derartige Argumente. Am Ende geht es gar nicht mehr ums Musizieren selbst. Die Transfereffekte existieren. Aber Musik und Musizieren haben einen Eigenwert, der Erkenntnisse und ein Weltverständnis vermittelt, die sich nur über die Musik transportieren lassen. Identität und Orientierung sowie kulturelles Teilhabevermögen wird derart der Weg geebnet. Musik ist weit mehr als ein klingendes Design. Dieses Bewusstsein war früher sicher ausgeprägter und die Medien hatten mit Aspekten einer profitablen Vermarktung noch nicht den Blick auf eine notwendige musikalische Vielfalt verengt. Dieser Tunnelblick muss wieder geweitet werden. Wenn heute mehr Menschen denn je ein Instrument erlernen, könnte dies ein Silberstreif am Horizont sein!

Ganz sicher bedeutet dies auch einen Wandel des Berufsbildes.

Wir sind mittendrin in Veränderungen, wie ich sie im Zusammenhang mit Kooperationsangeboten nannte. Das ist ein neues Tätigkeitsfeld der Musikschullehrkräfte. Denken Sie an JeKi und Kita-Maßnahmen. Ein Umdenken, Neugestalten sowie die Aneignung spezieller pädagogischer Fähigkeiten ist erforderlich. Die Folge ist ein neues Berufsbild, an dem ebenso klar wird, dass hierbei Kontinuität erforderlich ist, die nur von hauptamtlichen Lehrkräften eingebracht werden kann.

Hat der VdM nicht auch die Aufgabe, gegenüber der Politik noch mehr Druck zu machen?

Es besteht die Sorge, dass sich die Schüler nicht mehr so aufs Musizieren konzentrieren können wie früher. Es fehlt an Übezeiten. Ich predige das schon seit fünf Jahren: Wir brauchen feste Orte und feste zeitliche und räumliche Zugangsmöglichkeiten zu Musikschulangeboten in den Schulen. Es muss in der Mittagszeit möglich sein, dort Instrumentalunterricht seitens der Musikschule zu geben. Die Verdichtung des Regelunterrichts im Zusammenhang mit G 8, aber auch im Hinblick auf die Entwicklung der Ganztagsschule machen das notwendig. Wir sind in eine schulische Umstrukturierung „hineingeplumpst“, die wir nun sinnvoll gestalten müssen. Die in Mainz im Kontext unseres Kongresses verabschiedete Erklärung hebt hervor, dass wir uns keineswegs gegen Ganztagsschulen richten, sondern Lösungswege in dieser Problematik gefunden und genutzt werden müssen, damit die Zugänge zur Musik und zum Musizieren nicht verschlossen werden. Insofern macht der VdM auch politisch Druck und die ersten Reaktionen aus der Politik zeigen uns, dass wir ernst genommen werden, weil man unseren konstruktiven Ansatz erkennt.

Manche Musikschullehrer fragen sich: Machen wir jetzt nur noch JeKi …?

„Nur“ würde ich jetzt mal weglassen. Es wird da plötzlich etwas ausgeblendet an der Vielfalt einer unverzichtbaren Musikschularbeit, die umfassender ist denn je. Da möchte ich die Musikschullehrer beruhigen: Es wird nicht dazu kommen, dass wir nur danach gehen, „dass“ musiziert wird, sondern auch das „Was“ und „Wie“ Geltung behalten. Schließlich haben wir es mit geistigen Werten, die die Musik ja transportiert, zu tun, die unsere Gesellschaft dringend benötigt, um die Herausforderungen der Zeit zu bewältigen. Das ist keinesfalls simpler Zweckoptimismus.

In der Öffentlichkeit gibt es auch deutliche Tendenzen zur Privatisierung all dessen, was im Bereich Musikschulen geschieht.

Es gibt vielleicht Interessenvertreter, die das suggerieren wollen. Richtig ist jedoch das Gegenteil. Gerade die kommunalen Spitzenverbände von Musikschulen betonen, wie unverzichtbar Musikschularbeit in den all gemein bildenden Schulen, in städtischen Kindereinrichtungen bis hin in die Senioreneinrichtungen sowie vor allem für das kulturelle Leben der Städte und Gemeinden ist und dass dies nur bewerkstelligt werden kann, wenn dies auf einer strukturellen Basis fußt. Beispiel: Um den Nachwuchs für das Laienmusizieren auszubilden, bedarf es nicht allein des Instrumental- und Vokalunterrichts, sondern vor allem auch der pädagogischen Hinführung zum Ensemblespiel und Chorgesang. Das läuft an den Musikschulen parallel. Dort gibt es die Orchester, die Rockgruppe, die Bigband oder die Kammermusik sowie Chöre und gleichzeitig Ergänzungsfächer, die weitere Perspektiven öffnen. Hinzu kommt die Förderung von Spitzenbegabungen, die aus der Breite entstehen. Das kann privat gar nicht abgedeckt werden, ohne dass die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen einen schweren Schaden erfahren würde und eine sinnvolle Qualitätskontrolle verloren ginge. Wir können nicht eine lebendige Musikkultur wollen, weil sie gesellschaftlich notwendig ist, aber gleichzeitig die Verantwortung dafür aufgeben. Private Partikularinteressen kommen als wohlfeile Äußerungen daher. Sie lassen jedoch außer Acht, dass sie die Zugangsoffenheit zum Musizieren und Qualitätsmaßstäbe gefährden. Musikschularbeit wird gerade heute als Teil im System einer vernetzten Bildungslandschaft verstanden. Eine Zerschlagung in privat getragene Teilbereiche widerspricht dem Bildungsgedanken, würde teurer und verlöre ihre pädagogische Effektivität.

Ein weiteres wichtiges Thema sind die Musikschul – lehrerinnen und -lehrer und die Wertschätzung ihrer Arbeit.

Wir haben die Vorstellung, dass Musikschullehrerinnen und -lehrer eine öffentliche Aufgabe wahrnehmen. Das verdient Anerkennung und kann nicht der Willkür preis – gegeben werden. Schließlich setzt diese Arbeit ein hohes Maß an künstlerischem und pädagogischem Können und Engagement voraus. Da diese Qualitäten in einem kontinuierlichen Unterricht zielführend genutzt werden müssen, bedarf es sozialversicherungspflichtiger Angestelltenverhältnisse. Das ist aus der Sache heraus für mich und den VdM ein Credo. Instrumental- und Vokallehrer, Ensembleleiter und Kolleginnen und Kollegen, die im Bereich der elementaren Musikpädagogik tätig sind, haben Respekt verdient. Sie sind keine Lückenbüßer, die musikalische Eintagsfliegen produzieren. Ihre systematische, mit Herzblut versehene Arbeit dient dem Wohl der Gesellschaft. Wer das nicht wertschätzt, bestreitet der nachwachsenden Generation das demokratische Recht auf umfassende Bildung und kulturelle Selbstentfaltung.

Da sind wir uns einig: Musik kann unser Leben entscheidend prägen. Und vielleicht sogar verändern.

Dazu ein berührendes Beispiel aus meinem Alltag: Ich hatte einen Klavierschüler aus Afrika. Eines Tages kam er – für ihn völlig ungewöhnlich – zu spät zum Unterricht. Er sagte mir, sein Vater sei gestorben – heute! Ich wollte die Stunde natürlich abbrechen und sie ein anderes Mal nachholen. Da hat er mich angeguckt und gesagt: Ja, wozu mache ich denn Musik? Ich habe geschluckt und gedacht: Da muss jemand aus Afrika kommen und mir das sagen? Sind wir schon so weit vom Wert des Musizierens entfernt, um zu erkennen, welche Bedeutung Musik für uns hat? Musikalische Bildung von klein auf und ein Leben lang ist Teil des Menschen und nicht in Zahlen messbar.