Fladt, Hartmut

Neue Musik – Bauernmusik – Popularmusik

Béla Bartóks Klaviermusik und die französische Moderne

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2011 , Seite 12

In Béla Bartóks Schaffen ergänzen und beeinflussen sich die artifizielle französische Clarté, osteuropäisch und fern­östlich inspirierte Pentato­nik und Ganztönigkeit, die “akustische Skala” als Darstellung der Partialtonreihe und gleichzeitig Natursymbol sowie die kraftvolle Modalität russischer Bauernmusik im Bewusstsein der französischen Moderne um 1900 wechselseitig. Für diese Moderne greift das Schlagwort “Impressionismus” viel zu kurz.

Mit Carl Philipp Emanuel Bach, Wolf­gang Amadé Mozart und Ludwig van Beethoven war es selbstverständlich geworden, dass Komponisten zugleich als hervorragende Pianisten brillierten. Diese Tradition setzte sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fort; ­exemplarisch seien Sergej Prokofjew, Béla Bartók, Benjamin Brit­ten oder Aribert Reimann genannt. Und auch im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts bestätigten Claude Debussy und Maurice Ravel diese Regel: Sie traten als Interpreten nicht nur ihrer eigenen Werke hervor.
Sowohl kompositorisch wie pianistisch eroberten Debussy und Ravel die große französische Musik des 18. Jahrhunderts zurück, mit ihrem – was Werke für Tasteninstrumente betrifft – Gipfel der Clavecin-Stücke von Couperin und Rameau. Und dieser Rückblick bot auch Perspektiven der Erneuerung: Verfremdungsästhetik und früher Neoklassizismus wurden zu wesentlichen Kategorien der Neuen Musik.
Die Rückbesinnung aufs eigenständig Französische, gegen den Schwall deutsch-wagnerischer Einflüsse, bezeichnet die eine Seite des Neuen in ihrer Musiksprache; die andere Seite ist geprägt von der Begegnung mit der authentischen russischen und der ostasiatischen Musik. Als Hauspianist der Tschaikows­ky-Gönnerin Nadeshda von Meck lernte Debussy in Russland primär Borodin und Mussorgsky schätzen – eine Liebe, die der jüngere Ravel teilte. Béla Bartók notierte: „Als ich […] auf Anregung Kodálys die Werke Debussys kennen lernte und studierte, nahm ich mit Erstaunen wahr, dass auch in dessen Melodik gewisse, unserer Volksmusik ganz analoge pentatonische Wendungen eine große Rolle spielen. Zweifellos sind dieselben ebenfalls dem Einfluss einer osteuropäischen Volksmusik – wahrscheinlich der russischen – zuzuschreiben. Gleiche Bestrebungen findet man in den Werken Igor Strawins­kys; unser Zeitalter weist also in den vonei­nander entferntesten geografischen Gebieten dieselben Bestrebungen auf: die Kunstmusik mit Elementen einer frischen, durch das Schaffen der letzten Jahrhunderte nicht beeinflussten Bauernmusik zu beleben.“1
Auch die Klaviermusik wird getragen von einer Emanzipation der Klangfarbe (wobei Dissonanzen sich von ihrer ursprünglichen kont­rapunktischen Bedeutung hin zu Farbwerten „emanzipieren“), von Synästhesien mit Farben, Düften, Geschmack. Grenzüberschreitungen zu den anderen Künsten, Symbolismus, Verfremdungsästhetik und der dandyhafte Ästhetizismus des französischen Jugendstils schließen den Bogen der vielfältigen Einfluss-Sphären. All das ist verbunden mit einer Erneuerung der Gattung des Charakterstücks, zusammengefasst in Suiten oder anderen lockeren Zyklen, häufig sowohl bei den Einzelstücken als auch insgesamt mit poetischen Titeln versehen wie Estampes (Debussy) oder Miroirs (Ravel), bei Bartók etwa Esquisses, Nénies oder Burlesken.

Béla Bartóks ­Selbstfindung

Für den Ungarn Béla Bartók wurde, besonders auf kulturellem Gebiet, die Hinwendung zu Frankreich und dieser spezifischen Moderne (erster Paris-Besuch 1905 anlässlich eines Kompositions- und Klavierwettbewerbs) zum Politikum. Bartók entfernte sich – auch durch die jetzt intensivere Debussy-Rezeption; Ravels Musik lernte er erst ab 1909 kennen – demonstrativ von den konservativen deutsch-österreichischen Traditionen, ohne jedoch deren bewahrenswerte Errungenschaften zu verleugnen, die ihm auf selbstverständliche Weise von seinem Klavierlehrer István Thomán (einem Liszt-Schüler) und seinem Kompositionslehrer Hans Koessler (einem Brahms-Schüler) vermittelt worden waren. Die Zeitschriften Nyugat (Westen) und Ma (Heute) bündelten als Diskussions- und Informations­quelle auch für Bartók, der sie abonniert hatte, alle beschriebenen Einfluss-Sphären.

1 Béla Bartók: „Selbstbiographie“, in: Musikblätter des Anbruch 5 (1921), S. 89; auch als „Autobiographie“, in: ders.: Weg und Werk, Schriften und Briefe, hg. von Bence Szabolcsi, Kassel 1972, S. 156.

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