Motzkau, Friederike

Sich an das Alte erinnern, als sei es neu

Melodische Improvisation als Vorstufe zur Interpretation

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 3/2011 , Seite 24

Viele SchülerInnen gehen davon aus, dass die Arbeit an einem Musikstück abgeschlossen ist, sobald sie es fehlerfrei spielen können. Wenn ich an der Interpretation eines Stücks arbeiten will, ernte ich oft verwunderte und verständnislose Blicke: “Was will sie denn jetzt noch?” Die Notwendigkeit und die Kunst der Interpretation scheint in solchen Fällen noch nicht ausreichend vermittelt worden zu sein.

Interpretation ist einerseits subjektiv und wenig konkret. Andererseits kommt es im Unterricht häufig nicht mehr zu einer fruchtbaren interpretatorischen Arbeit, weil sich die SchülerInnen (etwa durch allzu langes Üben eines Stücks) eine „unmusikalische“ Spielweise angewöhnt haben. In solchen Fällen schien es mir in der Vergangenheit oftmals passender, ein von den SchülerInnen lang ersehntes neues Stück aufzugeben. Da ich das Interpretierenlehren aber nicht vernachlässigen wollte, dachte ich darüber nach, wie Interpretation von Anfang an in das Erlernen eines Musikstücks einbezogen werden könnte. Gleichzeitig wollte ich unmusikalisches Abspielen und „Totüben“ verhindern. Schließlich besteht ein Ziel des Instrumentalunterrichts darin, musikalische Zusammenhänge verstehen und darstellen zu lernen. Nicht zuletzt fängt dann erst die Freude am Musizieren an.
Ich kam zu folgendem Schluss: Wenn SchülerInnen lernen sollen, „fremde“ musikalische Ideen zu interpretieren, hilft es, wenn sie zuerst lernen zu improvisieren, das heißt eigene musikalische Ideen zu entwickeln. Diese werden intuitiv musikalisch gestaltet. Davon ausgehend könnte ein Schüler dann versuchen, die fremden Phrasen wie seine eigenen klingen zu lassen.
Dieser Ansatz lässt sich besonders gut mit Kompositionen durchführen, die aus einer Melodie mit Akkordbegleitung (bzw. auf Akkorde reduzierbarer Begleitung) eines Harmonieinstruments bestehen. Die melodische Improvisation schien mir der günstigste Weg. Denn betrachtet man die Melodie eines Musikstücks als die bestmögliche aus vielen möglichen, probiert man, indem man über den Begleitsatz improvisiert und eigene Ideen entwickelt, all die anderen Melodieoptionen aus. Somit nähert man sich dem Notentext von einer ganz anderen Seite.
Als ich anfing zu lernen über Jazzstandards zu improvisieren,1 fasste mein damaliger Lehrer seinen methodischen Ansatz so zusammen: „Im Stil des Jazz zu improvisieren, bedeutet sich an etwas Neues zu erinnern.“ Mit dem „Erinnern“ bezog er sich auf all die Skalen, Akkordarpeggien und Melodieausschnitte, die er mir gezeigt hatte und die ich meinen Ohren und Fingern beibringen sollte. Aus diesem Fundus gilt es immer wieder neue Melodien zusammenzustellen, zu erschaffen.2
Um diesen Ansatz auf das Interpretieren klassischer Musik zu übertragen, könnte man ihn folgendermaßen umformulieren: „Interpretation ist das Erinnern an etwas Altes, als sei es neu.“ Das „Alte“ steht hier für den einstudierten Notentext, der interpretiert wird, als sei er im Moment entstanden, als sei er also eine Improvisation. Dies ist sicherlich kein Patentrezept. Jedoch gibt es einige Stile und Stücke, die auf diese Art sinnvoll gestaltet werden können. Darunter fallen die Fantasien für Flöte solo von Georg Phillip Telemann, die Partiten von Johann Sebastian Bach oder die klangfarbenreiche Musik der Impressionisten.
Die skizzierte Idee habe ich mit verschiedenen QuerflötenschülerInnen an dem Stück „La meneuse de tortues d’or“ (Die Anführerin der goldenen Schildkröten) aus dem Zyk­lus Histoires von Jacques Ibert erfolgreich ausprobiert. Zunächst will ich anhand dieses Werks die Grundübung schildern, die als Basis für alle anderen Übungen genutzt werden kann. Der Schüler oder die Schülerin sollte den Notentext zunächst noch nicht kennen. Danach gebe ich weitere Experimentieranregungen, die in beliebiger Reihenfolge ausprobiert werden können. Wann dann mit dem Schüler oder der Schülerin der Notentext erarbeitet wird, bleibt offen. Jede der Übungen kann funktionieren, egal ob man den Notentext kennt oder nicht.

1 Mit Jazzimprovisation meine ich hier die traditionelle, harmoniebezogene Improvisation im Stil der Swing- oder Bebop-Ära.
2 Dies ist nur ein Zugang zur Jazzimprovisation. Es gibt noch viele weitere Ansätze, die hier jedoch nicht relevant sind.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2011.