Meyer, Claudia / Anne Weber-Krüger

Begegnungen mit der Fantastik

Inszenierung als Methode in der Musikalischen Früherziehung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2010 , Seite 10

„Begegnungen mit der Fantastik“, so lautet die Überschrift auf einem Pla­kat, mit dem die Stadtverwaltung in Reggio Emilia 1972 zu einer Tagung einlädt, um mit Fachleuten darüber nachzudenken, wie Imagination und das Vertrauen auf die Fantasie von Kindern Eingang in die Erziehung finden kann.1 Die Reggio-Pädagogik steht inzwischen international für eine Pädagogik, in der die gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten in der Bildenden Kunst in besonderer Weise gefördert werden. Denkt man über ein Anregungspendant zum Atelier für die Musikerziehung nach, erscheint uns die Inszenierung von Situationen als Ausgangspunkt zu selbstverantwortetem musikalischen Handeln als eine stimmige Möglichkeit.

Inszenierung als eine Methode in der Musikalischen Früherziehung vorzuschlagen, ist der Idee geschuldet, Kunst und Pädagogik zusammenzudenken, einen künstlerischen Ausgangspunkt zu finden, der im wahrsten Sinne des Wortes zur Unterrichtskunst führen kann. Der Begriff der Inszenierung erscheint besonders geeignet, da er auf einen Ort künstlerischer Handlungen an öffentlichen Schauplätzen verweist. Inszenierungen zeichnen sich durch die Präsenz aller Agierenden aus und beanspruchen im zeitgemäßen Umgang2 den Menschen in seiner vollen Aufmerksamkeit und Ganzheit.
Wie kann es nun gelingen, dass Kinder in der Musikalischen Früherziehung nicht nur als Darstellende innerhalb eines festgesteckten Inszenierungsrahmens agieren, sondern auch die Möglichkeit erhalten, eigene Impulse beizusteuern, Ausformungen verantwortlich mit­zugestalten, kurz: dem eigenen Eindruck, der eigenen Weltwahrnehmung und Interpreta­tion von Erlebnissen einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben wir unter anderem einen Weg beschritten, der in der Reggio-Pädagogik schon seit vielen Jahren verfolgt wird, nämlich einerseits die aufmerk­same Beobachtung der Kinder und andererseits die Bereitstellung einer anregenden Umgebung, in der den Interessen der Kinder sowie eigenen Rhythmen und Wegen des ­Erkundens Raum gegeben wird. Darüber hi­naus wurden die Kinder im Sinne der neueren Kindheitsforschung, in welcher Forschung aus der Perspektive von Kindern betrieben wird, als Experten ihres eigenen Handelns befragt.

Öffnung von Forschungsräumen

Qualitative Befragungen sind umso seltener, je jünger die befragten Kinder sind. Befragungen von Kindern aus der Musikalischen Früherziehung im Kontext qualitativer Interviewforschung existieren bisher nicht. Im Rahmen ihres Dissertationsprojekts mit dem Arbeitstitel „Bedeutungszuweisungen in der Musikalischen Früherziehung“ untersucht Anne Weber-Krüger Erwartungen, Wünsche, musikbezogene Umgangsweisen und Gestaltungsideen 5- bis 6-jähriger Kinder, welche am Unterricht der Musikalischen Früherziehung teilnehmen. Die Datenerhebung erfolgt in ca. 45-minütigen qualitativen Doppelinterviews mit Kindern aus dem zweiten Jahr der Musikalischen Früherziehung. Diese werden auf Video aufgenommen und qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet.
Für die Interviews wurde eine symbolische Interviewform gewählt, in der Materialien Zeigehandlungen und Gesprächsanreize auslösen können. So erhalten die Kinder in einem als Musikraum angelegten Raummodell mit Spielfiguren und Bildkärtchen die Gelegenheit, eigene Früherziehungsstunden zu entwickeln und darzustellen.
In der Unterrichtsstunde, die den Interviews vorangeht, lernen die Kinder das Raummodell und seine Spielregeln, vor allem aber auch die Interviewerin kennen. Um die Übertragung der Realität ins Modell erfassen und verstehen zu können, werden Situationen aus dem Unterricht der Musikalischen Früherziehung im Modell nachgespielt, ebenso erfolgt die Übertragung gespielter Szenen aus dem Raummodell in die Realität. Jeweils ein Kind schlüpft zu diesem Zweck in die Bestimmerrolle, sucht sich Materialien, Instrumente u. Ä. aus und entwickelt Ideen, was damit gemacht werden soll.
Mit diesem Forschungsdesign wird nicht nur ein Forschungsraum eröffnet, der die Pers­pektiven von Kindern aus der Musikalischen Früherziehung in den Vordergrund stellt, sondern auch den Kindern wird ein Raum zur Ver­fügung gestellt, in dem sie ihre Gestaltungsideen und die Vielfalt ihrer musikalischen Sprachen zum Ausdruck bringen können.

1 vgl. Gianni Rodari: Grammatik der Phantasie, Leipzig 1992, S. 7-9.
2 In zeitgemäßen Inszenierungsarbeiten geht es um die gemeinsame Lösung von Aufgabe- und Fragestellungen (vgl. z. B. Peter Brook: Wanderjahre. Schriften zu Theater, Film & Oper 1946-1987, Berlin 1989) und nicht um eine autoritäre Regie, der sich die Agierenden mit wenig Spielraum für eigene Gestaltungen unterzuordnen haben.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2010.