Feldmann, Rainer

„Was du denken kannst, kannst du auch spielen!“

Mentales Üben mit Kindern und Jugendlichen – ein effektiver und spielerischer Weg zum bewussteren Musizieren am Beispiel des Gitarrenunterrichts in der Musikschule

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2010 , Seite 30

Es hieße Eulen nach Athen zu tragen, an dieser Stelle die grundsätzlichen Vorteile mentalen Übens in der instrumentalen Arbeit zu verkünden. Viele berühmte Virtuosen bedienen sich dieser Methode. Und auch meine eigene Arbeit als Inter­pret und Hochschullehrer wäre ohne solche Hilfestellungen undenkbar. Umso erstaunlicher, wie unerfahren in dieser Hinsicht die meisten Studierenden sind, die neu in meine Klasse kommen. In der Musikschulausbildung zumindest der GitarristInnen scheint mentales Üben wenig Bedeutung zu haben. Dabei liegt es auf der Hand, diese Übetechnik gerade dort zu thematisieren – nicht zuletzt, um frühzeitig den Grund­stein für ein effektives Lernen und Arbeiten zu legen.

Eine große Inspiration war für mich mein gitarristischer Mentor Pepe Romero, von dem der als Überschrift für diesen Beitrag gewählte Ausspruch stammt. Ebenso das meiner Meinung nach richtungsweisende Buch Üben mit Köpfchen. Mentales Training für Musiker von Linda Langeheine (Frankfurt am Main 1997). Aber alle Theorie kann nur die Grundlage für eine erfolgreiche praktische Arbeit sein, und von dieser möchte ich hier aus meiner Sicht als Gitarrendozent im Unterricht mit zwei Schülern berichten.
Ernest (17 Jahre, seit etwa acht Jahren in meiner Klasse) ist ein außergewöhnlich begabter und motivierter Junge mit enormen technischen Möglichkeiten und großer musikalischer Ausdruckskraft. Durch die regelmäßige Teilnahme an nationalen und internationalen Gitarrenwettbewerben hatte er stets ein in Quantität und Qualität anspruchsvolles Programm zu bewältigen. Um so erstaunter war ich manchmal, wenn Ernest bei Stücken, die er eigentlich schon geradezu bravourös spielen konnte, Textaussetzer hatte, die in ein plan- und richtungsloses Suchen mündeten. So begannen wir, die strukturellen Kennt­nisse über die Stücke durch mentales Üben grundlegend zu präzisieren und zu vertiefen. Ich möchte dies anhand zweier Stellen aus den Variationen über ein Thema von Mozart op. 9 von Fernando Sor näher erläutern, an denen ich mit Ernest erstmalig auf diese ­Weise arbeitete. Ich werde hier bewusst auf ­Notenbeispiele verzichten, um interessierte LeserInnen ausschließlich über die Vorstellungskraft mit einzubeziehen.

„Warum komme ich immer wieder raus?“

Übung: Ernest greift den Akkord am Ende des zweiten Takts des B-Teils der Variazione II gis-d-h und beschreibt die griffliche, fingersatztechnische Situation in folgender Weise: „Ich greife mit dem zweiten Finger das gis im sechsten Bund auf der D-Saite, das d mit dem dritten Finger auf der G-Saite im siebten Bund und das h mit dem vierten Finger im siebten Bund der E-Saite.“ Danach beschreibt er in gleicher Weise die anschlagstechnische Ordnung in der rechten Hand (Daumen schlägt die D-Saite, Zeigefinger die G- und Mittelfinger die E-Saite an). Dann schaut Ernest in die Noten (während er sowohl die linke als auch die rechte Hand in der Position an den Saiten hält) und beschreibt den nächsten Akkord in gleicher Weise bzw. danach den detaillierten Weg dorthin Finger für Finger. Er stellt sich dann zunächst den Wechsel vor und vollzieht ihn im Anschluss schnell und präzise real nach – selbstverständlich ohne auf die Hände zu sehen. Zur Visualisierung dient das Bild, welches Ernest real wahrnimmt, wenn er in seiner normalen Spielposition am Instrument sitzt und arbeitet. Später werde ich noch weitere Möglichkeiten erwähnen.
Sollte bei diesem Wechsel etwas misslingen, muss geklärt werden, ob ein technisches Problem (falsche Handhaltung o. Ä.) oder ein gedanklicher Textfehler die Ursache ist. Die „Fehlleistung“ wird analysiert, korrigiert und danach wird neu visualisiert. Im Anschluss führt Ernest die Aktion erneut aus, bis alles perfekt funktioniert. Danach atmet er einige Momente ruhig durch, was zur Festigung der eben gespeicherten Informationen sehr wich­tig ist.
In der Weiterführung wird der gleiche Vorgang zum nächstfolgenden Akkord wiederholt. Dies verhilft einerseits zur subtilen Kenntnis des musikalischen Materials und seiner inst­rumentalen Umsetzung, andererseits ist es nach meiner Auffassung die unverzichtbare Grundlage zu einem sicheren Auswendig-Spielen, also keine reine Automatisierung der Bewegungsvorgänge durch bloßes zahlreiches Wiederholen (ich bezeichne das gern als „motorisches Gedächtnis“). Stattdessen ist eine intellektuell gesteuerte und kontrollierte Ausführung möglichst aller musikalischen und technischen Details realisierbar.
Diese mental, also ganz auf das Denken ausgerichtete Arbeitsweise, dient aber auch der Bewältigung konkreter technisch-manueller Problemstellungen. Ich möchte dies an einem der Läufe in der ersten Variation erläutern.

Erst denken, dann ­spielen!

Übung: Zuerst müssen die Fingersätze geklärt werden. Ich schlage folgende Variante vor: Lauf eins, Takt zwei, Noten aufwärts von h bis a. Linke Hand: dritter Finger – H-Saite – vierter Bund; erster, dritter und vierter Finger – H-Saite – zweiter, vierter und fünfter Bund; erster, dritter und vierter Finger – E-Saite – zweiter, vierter und fünfter Bund. Rechte Hand: Daumen, Mittel-, Zeigefinger, Daumen, Mittel-, Zeigefinger, Daumen. Nun beginnt Ernest mit einem Durchdenken des Bewegungsablaufs in der linken Hand adä­quat zu den eben überlegten Fingersätzen. Er visualisiert dabei die Situation zuerst sehr langsam, dann schneller bis eventuell in das Originaltempo. Selbstverständlich nicht nur das Was, sondern auch das Wie: Handhaltung, Größe der Bewegungen etc. – und das alles konsequent perfektioniert. Nun das Gleiche für die rechte Hand, dann beide Hände zusammen. Wichtig ist, dass das Tempo erst dann erhöht wird, wenn das Zusammenspiel der Hände in jedem Detail gedanklich makellos funktioniert, was eine Zeit des denkenden Übens braucht. Erst wenn ein fehlerfreier Ablauf visualisiert werden kann, folgt die praktische Umsetzung am Instrument. Und zwar nach dem gleichen Prinzip wie vorhin beschrieben: Wahrnehmung, Analyse, Korrektur, neue und präzisierte Visualisierung, praktische und verbesserte Wiederholung. Nach jeder Übung folgt ein entspannendes Atmen.

Assoziatives Üben

Zu dem bloßen Vorstellen von Griffkombinationen oder Bewegungsmustern sollte immer auch das Hören der Musik und auch das Fühlen der beiden Hände (der Finger) an den Saiten hinzukommen. Man sollte den Akkord unbedingt den eigenen Vorstellungen gemäß optimal klingend hören und man greift bzw. schlägt mit nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel Druck an. Sehr hilfreich kann auch sein, mit den Klängen und dem eigenen Agieren Visualisierungen von Farben oder Licht zu verbinden („Die Akkordkette bewegt sich von dunkel nach hell und wieder zurück nach dunkel“). Ernest stellt sich vor, er spiele zu einem Film (einer filmischen Handlung) oder er sieht sich selbst aus einer Publikumspers­pektive auf der Bühne.
Nach den guten Erfahrungen, die ich mit ihm machen konnte, fühlte ich mich ermutigt, noch wesentlich früher anzusetzen. Ich beginne damit allerdings erst, nachdem eine Grundkenntnis im Umgang mit dem Instrument geschaffen werden konnte (etwa zweites Unterrichtsjahr). Selbstverständlich muss die Art des Herangehens dem Alter entsprechend kindgemäß sein.
Besonders geeignet schien mir mein Schüler Alexander. Er ist zehn Jahre alt und ich unterrichte ihn seit etwa einem Jahr. Er ist ein ganz besonders aufgeschlossener und motivierter Junge, der auch 60-minütigen Unterricht mühelos bewältigt und das Ende der Stunde regelmäßig mit erstaunten und enttäuschten Worten wie: „Schon zu Ende die Stunde? Das gibt’s nicht!“, kommentiert. Alexander nimmt bewusst wahr, versteht schnell und setzt gut um. Er ist nicht schüchtern, sondern antwortet unverkrampft, klug und vorbehaltlos, sodass ich Reaktionen auf bestimmte Übungen leicht und recht präzise ablesen kann. Übrigens konnte ich durch diese Methode auch Alexanders für GitarristInnen typische Haltungsschwächen vermeiden, die durch den Drang, optische Kontrolle auszuüben, verursacht werden (Verdrehen des Oberkörpers, „Kippen“ der Gitarre, Vorneigen und Verdrehen des Kopfes). Ein aus meiner Sicht sehr bedeutsamer Nebeneffekt mentalen Übens im Gitarrenunterricht.

„Gehirnjogging“ an der Gitarre

Zuerst begann ich, mit Alexander überhaupt über das Visualisieren (Vorstellen, Tagträumen) zu sprechen. Die Vorstellung einfacher alltäglicher Bewegungsabläufe fiel ihm leicht und dies nicht zuletzt durch seine bereits im Fußballclub gemachten Erfahrungen, von denen ich interessiert erfuhr („Legt euch im Kreis auf den Rücken, die Hände auf den Bauch, ruhig und gleichmäßig atmen, stellt euch vor, ihr habt ein Spiel gewonnen und steht jetzt vorn mit dem Pokal…“). Übrigens stellt sich hier die berechtigte Frage: Woher weiß man als LehrerIn eigentlich, was die SchülerInnen sich nun wirklich genau vorstellen? Ich versuche dies durch gezieltes Fragen nach Details wie etwa: „Sind die Finger deiner linken Hand beim Greifen direkt beieinander oder halten sie Abstand, wenn ja, wie groß ist der?“, zu klären.
Nun beschäftigen wir uns mit einer Übung, die Alexander als Teil seines Unterrichts besonders gern spielt. Wichtig ist mir hierbei die ihm gemäße Größe der Lernportionen einerseits und der deutlich spaßbetonte, spielerische Aspekt andererseits. Alexander fand übrigens sehr schnell heraus, dass auch die anfängliche Sichtkontrolle bezüglich der Ausgangsposition im Grunde nicht nötig ist. Das Halten des Instruments sowie das Fühlen der Saiten durch die Finger der linken und rechten Hand reicht zur Orientierung aus. Am liebsten spielen wir diese Übung im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen – das macht Alexander viel Spaß und es entfällt die Möglichkeit, aus Gewohnheit unbewusst doch wieder hinzusehen.
Übung: Die Übung wird zunächst ohne Inst­rument ausgeführt. Ich beginne mit der Beschreibung der Ausgangsposition wie zum Beispiel: „Wir sitzen in einer guten und bequemen Sitzposition und halten unser Inst­rument. Wir sind gut gelaunt und fühlen uns wohl. Nun greife (und spiele) ich den Ton a mit dem zweiten Finger der linken Hand im zweiten Bund auf der G-Saite als Viertelnote mit dem Mittelfinger der rechten Hand. Wir ,hören‘ den Ton erklingen.“ Es folgt ein kurzes ruhiges Durchatmen. Nun reagiert Ale­xander: „Ich greife (spiele) ebenfalls den Ton a mit dem zweiten Finger der linken Hand im zweiten Bund auf der G-Saite als Viertelnote mit dem Mittelfinger der rechten Hand und füge zwei Achtelnoten (zwei Töne auf der leeren H-Saite) hinzu. Ich spiele alle Töne im Wechselschlag.“ Wieder atmen wir einige Male ruhig durch. Nun beschreibe ich den gesamten Vorgang von Beginn an erneut mit der Ergänzung Alexanders und erweitere wiederum usw. Ich füge übrigens auch technische Hinweise hinzu wie etwa: „Achte da­rauf, dass dein Daumen der linken Hand nicht über das Griffbrett hinausragt“, o. Ä.
Am Schluss, nach einigem durchaus sehr anstrengenden Üben, sitzt das Ganze sicher im Kopf. Nun kann Alexander das Instrument nehmen und das eben Durchdachte noch einmal langsam als Ganzes und ohne vorheriges manuelles Probieren spielen. Mich freut sein begeisterter (wenn auch knapper) Kommentar: „cool!“ – Eben: „Was du denken kannst, kannst du auch spielen.“

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2010.