Klug, Heiner

„Das ist recht hübsch, aber eingelernt“

Von der Improvisation zur Komposition – und zurück?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2009 , Seite 06

Jeder Mensch improvisiert, sofern er seine Stimme oder ein Instrument benutzt, um Musik zu machen. Ein­zige Ausnahme sind wohl Musike­rinnen und Musiker innerhalb der abend­ländischen Musiktradition der vergangenen gut eineinhalb Jahr­hunderte. Bei unserer Art zu musizie­ren, der reinen Interpretation, handelt es sich um einen Spezialfall, der in der einmaligen Situation des 19. Jahrhunderts entstanden ist.

Im 19. Jahrhundert eilte die technische Entwicklung der schriftlichen Übermittlung auditiven bzw. audiovisuellen Vermittlungsarten und -medien immer weiter voraus. Speziell waren das große Fortschritte auf dem Gebiet der Druck-Technologien. Sie machten die Verbreitung des Musikwerks und damit die klassische Musikkultur, wie wir sie heute kennen, erst möglich. Hie­rauf gründet auch die für uns fast selbstverständliche Arbeitsteilung in Komposition und Interpretation. Seit dem 19. Jahrhundert erübrigte sich für all diejenigen, die sich auf die Interpretation bereits bestehender Werke konzentrierten – und das waren die meisten – auch die Notwendigkeit zu improvisieren oder selbst zu komponieren.
Dass es bis heute vergleichsweise wenige Komponis­tinnen und Komponisten gibt, hat aber auch mit dem „Schatten der Vergangenheit“1 zu tun, den die schriftliche Tradition der klassischen Musikwerke mit sich führt. Aufgrund des immensen Musik-Schatzes, den die großen Genies der Vergangenheit in Schriftform hinterlassen haben, wirkt es seit über 150 Jahren als beinahe anmaßend, eigene Schöpfungen diesem Erbe zur Seite stellen zu wollen. Die künstlerische Messlatte lag ab einem gewissen Zeitpunkt so hoch, dass sogar die Improvisationsdisziplin par excellence, die Solokadenz, in diesen Sog geriet und auch hier ausnotierte Versionen bevorzugt wurden.
Heute hat der Notentext – als die klassische Art der Musikvermittlung – Konkurrenz von audiovisuellen Medien bekommen und wir befinden uns mitten im Zeitalter der „technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks“.2 Es gibt inzwischen neben der werkorientierten klassischen Musiktradition ausgesprochen „improvisations- und kom­positionsfreundliche“ Disziplinen wie beispielsweise den Jazz oder die Jugendkultur der elektronischen Musik, wo sich MusikerInnen anstatt über Notation verstärkt über auditive Medien und Tonaufzeichnung verständigen. Hier ist das auditive Medium das Primärmedium, im Ext­remfall unter völligem Verzicht auf die schriftliche Aufzeichnung. Wie im Folgenden deutlich werden wird, schließt sich damit ­gewissermaßen ein Kreis der vergangenen zweihundert Jahre, denn in der Musiktradi­tion des 18. Jahrhunderts fand die Musikvermittlung ebenfalls wesentlich unter mündlich-auditiver Führung statt. Allerdings sind uns aus einleuchtenden Gründen der Medienhistorie aus jener Zeit nur noch die schriftlichen Dokumente zugänglich. Die heutige spezialisierte Interpretation ist also historisch gesehen eine überlebende Teilkultur einer wesentlich vielschichtigeren Musikpraxis von Improvisation, Komposition und Interpretation.

1 vgl. Thomas Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand, ­Berlin 1988.
2 vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1936/1977.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2009.