Frye, Yvonne

Colourstrings – das Geheimnis des Nordens

Musik empfinden, verstehen und ausdrücken

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2008 , Seite 46

Emphatisches Musizieren kombiniert mit einer brillanten Technik: die Helsinki Junior Strings. Sie spielen so intensiv und klangschön, dass man unweigerlich berührt wird von diesen Kindern und Jugendlichen. Die musikalische Ausbildung, die sich hinter dem Phänomen dieses Streichorchesters verbirgt, heißt Colourstrings.

Als der ungarische Geiger Géza Szilvay 1971 nach Finnland kam, um am East Helsinki Music Institute Anfänger auf der Geige zu unterrichten, sprach er kein Wort finnisch. Er musste also eine Unterrichtsform finden, die nicht auf eine sprachliche Vermittlung angewiesen war. Es lag nahe, dass die Kinder zunächst einfach imitierten, was er auf seiner Geige vormachte. Doch Géza Szilvay wollte die Kinder umfassender ausbilden, sodass sie wirklich verstanden, was sie taten: Musik als Sprache zu erlernen, sie innerlich zu hören und durch instrumentaltechnisches Können auszudrücken, waren grundlegende Ziele. Ihm war wichtig, dass gerade der Anfänger-Instrumentalunterricht auf höchstem Niveau erteilt wird, denn diese ersten Jahre sind zumeist entscheidend für die gesamte musikalische Zukunft des Kindes. In dieser Verantwortung entstand die Colourstrings-Methode. Zur Seite stand ihm sein Bruder, der Cellist Csaba Szilvay, der die Methode mitentwickelte und für das Cello ausarbeitete. Beide sind im Geiste des herausragenden ungarischen Komponisten, Musikpädagogen und Musikethnologen Zoltán Kodály aufgewachsen und seine Philosophie bildet das Fundament von Colourstrings.
Um einen direkten Zugang zur Verstandeswelt des Kindes zu bekommen, reduzierte Géza Szilvay das Notenbild auf das Nötigste und fand farbige, lebendige Symbole, die komplexe musikalische Inhalte einfach, aber treffend erklären. Zunächst wurden die farbigen Stimmen, aus denen die Kinder spielten, ein wenig belächelt. Doch als das Publikum im Konzert hörte, auf welchem Niveau die Schülerinnen und Schüler spielten, war die Begeisterung groß. Auf Anregung der finnischen staatlichen Fernsehgesellschaft YLE inszenierte Géza Szilvay seine Unterrichtsmethode 1979 als 56-teilige Fernsehserie. Zusammen mit den Colourstrings-Kindern bereist und erklärt er das Land der Musik. Diese Fernsehserie wurde unter dem Namen Mini-fiddlers in Musicland ausgestrahlt und löste in Finnland einen Geigenboom aus – vergleichbar dem Tennisboom, den Boris Becker in Deutschland hervorrief. Innerhalb kürzester Zeit waren alle kleinen Geigen in ganz Helsinki ausverkauft.
Ab den 80er Jahren sorgte das von Géza und Csaba Szilvay geleitete Streichorchester Helsinki Junior Strings, in dem mit Colourstrings ausgebildete Kinder und Jugendliche spielen, weltweit für Furore. Mit mehr als 70 Fernsehauftritten, über 30 CD-Aufnahmen und über 30 weltweiten Tourneen hat das Orchester gezeigt, dass es auf einem professionellen Niveau spielt.

Farbige Saiten und Symbole
„Diese ausgezeichnete Methode für die junge musikalische Streichergeneration hat sich bis jetzt als wirklich erfolgreich erwiesen und hat schon viele erstklassige Streicher hervorgebracht“, so die Meinung des berühmten Geigers und Pädagogen Max Rostal.
Die vier Saiten der Sreichinstrumente werden durch vier verschiedenfarbige Charaktere symbolisiert. Durch die Figuren wird das Kind mit den unterschiedlichen Tonhöhen vertraut gemacht. Die farbige Darstellung der Saiten prägt das Erscheinungsbild der Colourstrings-Bücher. Die Farben erleichtern die Übertragung des Schriftbilds auf das Instrument und wecken und fesseln Aufmerksamkeit.
In den Colourstrings-Büchern werden Rhythmen, Pausen und viele andere musikalische Elemente und Parameter bildlich eingeführt und erklärt. Die Verwendung der Rhythmussprache (z. B. TA, TI und TA-A für Viertel, Achtel und halbe Noten) unterstützt das Verstehen unterschiedlicher Tonlängen.
Schon im frühesten Instrumentalunterricht werden in bisher einzigartiger Weise Grundlagen geschaffen, die nahezu alle späteren technischen Anforderungen des Instruments berücksichtigen. Systematisch werden Oktav­flageoletts und Linke-Hand-Pizzicato verwendet. Es zupft jedoch nicht nur der kleine Finger, sondern Colourstrings führt das „Fingersatz-Pizzicato“ ein: Die leeren Saiten werden abwechselnd mit verschiedenen Fingern der linken Hand gezupft (eine höhere Saite mit einem höherzahligen Finger, eine tiefere Saite mit einem tieferen Finger). Noch bevor die Kinder greifen, werden so die Finger trainiert, sich unabhängig zu bewegen. Durch die Oktavflageoletts wird das gesamte Griffbrett erkundet. Der Arm führt schon sehr früh Lagenwechselbewegungen aus und das Kind erlernt sofort einen sehr freien Umgang mit dem Instrument.

Natürliche Flageoletts in der ersten Lage
Als erste Methode in der Geschichte der Streicherpädagogik bedient sich Colourstrings natürlicher Flageoletts in der ersten Lage (hier Quintflageolett mit dem 4. Finger gegriffenen) bzw. beim Cello zweiten Lage, um die linke Hand in eine optimale, entspannte Position für das spätere Greifen zu bringen und eine gute Intonation vorzubereiten. Zum Beispiel spielt das Kind auf der Geige zunächst das 1. Oktavflageolett und sucht dann den „Zwillingston“ in der ersten Lage auf der benachbarten tieferen Saite. Auch für die Entwicklung der Bogentechnik ist das regelmäßige Spielen von Flageoletts sehr hilfreich: Der flötenähnliche, intensive reine Klang eines Flageoletts kann nur dann entstehen, wenn das Kind gerade streicht, mit entsprechender Geschwindigkeit und Bogenlänge, richtig dosiertem Bogenhaar auf der Saite und ohne zu viel Druck auf die Saite auszuüben.
In den Violin- und Cellobüchern von Colourstrings finden sich Volks- und Kinderlieder aus aller Welt. Eine kindgemäße Notation vereinfacht zunächst die Beschwernisse des Notenlesens. Das herkömmliche Fünf-Linien-System wird schrittweise aufgebaut. Um die Fähigkeit des inneren Hörens zu entwickeln –das heißt das Notenbild wird im Idealfall „vorweggehört“ –, wird die relative Solmisation nach Guido Curwen-Kodály-Adám verwendet. Die Kinder singen die Stücke und Lieder vor dem Spielen mit Solmisationssilben und übertragen dann die so gewonnene Tonvorstellung sehr leicht auf das Griffbrett. Desweiteren ermöglicht das veränderliche DO bzw. LA als Symbol der Dur- bzw. Moll-Tonika schon im frühesten Instrumentalunterricht Transpositionen in alle Lagen von allen Tönen ausgehend. Die Finger werden vom Ohr geleitet und eine sehr gute Grundintonation ist das Ergebnis. Colourstrings-Kinder können ohne Probleme und mit einer erstaunlich guten Intonation Tonleitern in z. B. Fis-Dur oder b-Moll spielen.

Künstlerisches ­Gesamtpaket
Zusätzlich zu den Colourstrings-Büchern für den Instrumentalunterricht gibt es auch Material für die Früherziehung. Die Little Rascals und die Singing and Rhythm Rascals bringen die Beschäftigung mit Musik in die Familien, noch bevor mit dem Instrument begonnen wird. Die Lieder der Rascals-Reihen erscheinen – wie ein roter Faden – auch in den Cello- und Violinbüchern. Colourstrings gibt den Kindern ein „künstlerisches Paket“ mit auf den Weg. Es enthält neben der Ausbildung der Technik, der Schulung des Gehörs sowie des intellektuellen Verständnisses von Musik auch die besondere Entwicklung des Ausdrucksvermögens: Die Kinder zupfen und streichen schon leere Saiten immer mit verschiedenen Tempi, Dynamiken, Phrasierungen und Charakteren (fröhlich, wütend, traurig usw.). Die Saiten sind also keinesfalls „leer“, sondern werden immer mit musikalischem Inhalt gefüllt.
Kammermusik und Orchesterspiel gehören ebenfalls ganz selbstverständlich von Anfang an zur Ausbildung. Das breit gefächerte Zusatzmaterial bietet bereits zu den ersten gelernten Tönen Vortragsstücke in unterschiedlichen Besetzungen, die schon alle musikalischen Prozesse des Kammermusikspiels (das Führen von Tempiwechseln und Ritardandi, Stimmen übernehmen und fortführen…) enthalten. So erwächst z. B. aus einem Geigen-/ Cellopart von wenig mehr als zwei Tönen zusammen mit der Klavierstimme ein impressionistisches Werk, das dem Anfänger ein hohes Maß an musikalischer Konzentration und differenziertem Ausdruck abverlangt.
Die Basis der Colourstrings-Ausbildung ist Einzelunterricht, sinnvoll ergänzt von zusätzlichem Üben in der Gruppe. Die maximale Größe einer Gruppe beträgt acht Schüler, alle spielen das gleiche Instrument und sind etwa gleich alt. In Helsinki ist dieses „Gruppenüben“ viermal in der Woche jeweils 45 Minuten in den morgendlichen Schulunterricht einer Grundschule integriert. Dazu werden die Kinder einmal in der Woche 45 Minuten im Einzelunterricht gefördert. Dieses Modell ­exis­tiert am East Helsinki Music Institute erst seit neun Jahren. Davor wurden die SchülerInnen im Einzelunterricht (45 Minuten pro Woche) ausgebildet.
Colourstrings umfasst alle Streichinstrumente. Das Material für Batsche (das sich vor allem nach dem Violin ABC richtet) und Kontrabass sowie weitere Cellobände liegen in Manuskriptform vor und stehen kurz vor der Veröffentlichung.
Zoltán Kodálys Forderung, Musik solle zum Leben eines jeden Kindes gehören, ist auch Géza Szilvays Antrieb. Es geht bei Colourstrings nicht um eine Eliteförderung, sondern um eine Breitenförderung auf hohem Niveau. Natürlich möchte nicht jedes Kind Berufs­musiker werden; die Basis der musikalischen Ausbildung im Anfängerunterricht sollte jedoch sowohl für den zukünftigen Berufsmusiker als auch für den musizierenden Laien dieselbe sein, denn jeder hat das Recht auf eine fundierte Ausbildung.
Mit Colourstrings sind am East Helsinki Music Institute mittlerweile vier Streichergenerationen ausgebildet worden. Erstaunlich wenig SchülerInnen haben während dieser Zeit aufgehört zu spielen. Viele sind zu Musikkennern und -liebhabern geworden und musizieren nach wie vor im Amateurbereich. Ein beträchtlicher Prozentsatz befasst sich als Lehrerin, Orchesterstreicher oder Solist professionell mit Musik. In einer Zeit, in der es Musikschulen in Deutschland immer schwerer haben, Nachwuchs auszubilden, der den Leistungsanforderungen der Musikhochschulen gerecht wird, ist es an der Zeit darüber nachzudenken, wie wir unsere Musik- und Spielkultur bewahren können. Wa­rum nicht auch hier Richtung Finnland schauen, denn das Bildungssystem dieses kleinen Landes ist bekanntlich eines der besten Europas. Diese brillante Methode sollte nicht länger ein Geheimtipp bleiben.

Information: www.fennicagehrman.fi
Die Hefte der Colourstrings-Serie sind im Musikfachhandel oder über den Vertrieb von Schott Music erhältlich: www.schott-music.com. Das Früherziehungsmaterial gibt es bisher leider nur in englischer und finnischer Sprache.

 

 

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