Vickers, Catherine

Die Hörende Hand

Klavierübungen zur Zeitgenössischen Musik, Band 1

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2007
erschienen in: üben & musizieren 4/2007 , Seite 63

Nun liegt Band 1 des auf zwei Bände angelegten „modernen Czerny“ der renommierten Pianistin und Spezialistin für Neue Musik Catherine Vickers vor, die ein dornenreiches Kompendium zusammengestellt hat, um Lernwillige mit den neuen Techniken der zeitgenössischen Musik (ab ca. 1940) vertraut zu machen.
Es ist sicherlich richtig, dass es PianistInnen beim Spielen Neuer Musik wenig hilft, die technischen Lehrwerke eines Czerny, Brahms, Liszt, Busoni oder Cortot absolviert zu haben, um mit den technischen, aber auch den musikalischen Schwierigkeiten heutiger Musik fertig zu werden.
Insofern ist es hilfreich, dass ein solches Studienwerk erscheint. Band 1 gliedert sich in vier Teile: Im ersten wird die Theorie der sieben Modi von Olivier Messiaen vorgestellt, die er 1944 mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit bei Leduc in Paris veröffentlicht hat.
Im zweiten Teil werden ausführlich praktische Ratschläge erteilt, worin z. B. erklärt wird, warum Tempoangaben fehlen: Der Übebeginn soll so langsam wie möglich erfolgen, um schließlich im furioso „so schnell wie möglich“ zu enden. Der dritte Teil behandelt gebrochene Intervalle, um eine rasche Flexibilität in Hand und Ohr bei ungewohnten Griffen zu erreichen. Im vierten und letzten Kapitel schließlich geht es um Tonkomplexe (das Wort „Cluster“ wird immer vermieden), um Zusammenklänge vorzustellen.
Es ist lobend zu erwähnen, mit welcher Gründlichkeit, Akribie und Konsequenz die Übungen zusammengestellt sind. Dass auch Amateure sich dieser zeitraubenden Tortur des Übens unterziehen, ist schwer vorstellbar, zumal der zweite Band mit Kompositionsbeispielen noch nicht vorliegt (Erscheinen für Ende 2007 angekündigt). So wendet sich diese Ausgabe eher an angehende professionelle PianistInnen.
Es überrascht, dass sich die Autorin ausschließlich auf die sieben Modi von Olivier Messiaen beruft, während die Schönberg-Schule, die seriellen und postseriellen Kompositionsmodelle nebst Aleatorik und die auch auf dem Klavier mögliche Mikrotonalität ausgeklammert bleiben, sodass der Eindruck einer gewissen „rudimentären“ Einseitigkeit auf das Kompositionsmodell von Messiaen entsteht. Ferner wird die rhythmische Komponente in Band 1 noch ausgeklammert (die Noten werden nur als Notenköpfe dargestellt) und der Fantasie des Spielers überlassen. Noch eine Kleinigkeit: Die Notation mit bis zu neun Hilfslinien erschwert ungemein das rasche Erfassen des Tons, hier wäre ein Oktava-Zeichen sicherlich hilfreich.
Bei den Angaben zur Literatur fehlt der von Alfons Kontarsky bei Gerig (jetzt Breitkopf & Härtel) in den 1970er Jahren herausgegebene Klavierband Pro musica nova, der meines Erachtens erstmalig versucht hat, in das Wesen neuer Klaviermusik einzuführen, allerdings mit praktischen Musikbeispielen überwiegend renommierter heutiger Autoren.
Rudolf Lück