Leserbrief zum Thema Popmusik an Musikschulen

Über die Diktatur von Schallmüll

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2005 , Seite 49

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Man muss als Musikfreund einer Persönlichkeit wie dem Musikschulleiter Maximilian Schnurrer den Rücken stärken, will man nicht als Mitläufer im Chor jener Pessimisten gelten, welche die These der angeblichen Niederlage der Klassik-Musiker im Abwehrkampf gegen die Pop-Musiker beklagen. Was wir auf diesem Kultursektor seit vielen Jahren schon erdulden müssen, ist in Wahrheit ein Frontalangriff gegen unsere in Jahrhunderten gewachsene musikkulturelle Identität. Die ars musica als Kombination von Wissenschaft und Ästhetik, seit der Antike entwickelt und gereift, ist ein integraler Bestandteil unseres traditionellen Bildungssystems und darüber hinaus unseres Kulturverständnisses. Dieser Anteil spiegelt immer auch die jeweilige soziale wie geistige Verfassung der Musizierenden und ihrer Gesellschaft, aus der sie entstammen und für die sie musizieren, wider. Damit ließe sich mittels der praktizierten Musik eine aufschlussreiche Dechiffrierung der ästhetischen Verfassung ganzer Bevölkerungskreise erstellen. Dass sich dabei „Widersprüche wie der zwischen dem gesellschaftlichen Gehalt der Werke und dem Wirkungszusammenhang, in den sie geraten “ ergäben, liegt wohl auf der Hand. Diese Widersprüche bezeichnen die Autoren Manfred Grunenberg und Stephan Otters als „Fallen“, ohne zu bedenken, dass sie selber befangen sind.

Einer dieser selbst gelegten Fallstricke ist der Kunstbegriff, von Maximilian Schnurrer als Musikwert bezeichnet. Das populäre Genre war noch selten Kunst, und wirklich große Kunst war noch nie volkstümlich. Diese Antinomie lässt sich nicht lösen, und der Verweis auf jene Menschenmassen, die sich von den Popmusik-Repräsentanten hinreißen lassen, bestätigt diese Annahme. Eine falsche Behauptung wird nicht dadurch zur geläuterten Wahrheit, dass sie unendlich häufig wiederholt wird. Hier vollzieht sich eine schleichende Umwertung ästhetischer Kategorien. Die Bezeichnung „musikós“, seit alters vergeben, ist auf jene Akteure nicht mehr anwendbar, die unfähig sind, sinnvolle Inhalte und anspruchsvolle musikalische Strukturen auf ihren Tonwerkzeugen auch ohne Elektrizität hervorzubringen. Wenn der schöpferische und/oder interpretatorische Akt von Frequenzen und Ampères abhängig wird, dann hat der musikalische Aspekt keine Chance mehr. Wie müssen sich alle jene Sänger-Solisten, Kammer- und Orchestermusiker vorkommen, denen der penibel gestaltete einzelne Ton, die sorgfältig ausgeführte Phrase, ja eine ebenso individuell aufbereitete Klangmasse als Summe jener Einzeltöne am Herzen liegt und wofür sie sich, oft genug bis zur Selbstaufgabe, einer intensiven Ausbildung unterziehen müssen? Sie konstituieren das, was wir als ars musica, als musikalische Kunst schlechthin empfinden.

Dagegen bejubeln die Massen in der Popmusik eine mehr technische Fertigkeit, keine musische Ausdrucksform mehr. Subtilität ist hier nicht gefragt, wohl auch nicht angebracht. Ein hochwertiges „Produkt“ aus der Popmusik-Szene – mit Sicherheit befindet sich unter den von Ulrich Mahlert im Editorial zu Heft 5/04 angesprochenen „restlichen 10 Prozent“ doch etwas Bewahrenswertes – ist zu einem hohen Anteil von den handwerklichen Fertigkeiten der beteiligten Techniker abhängig, erst in zweiter Linie von den Musikern selbst. Der Ruhm einer Band scheint vielfach am Tonnengewicht der mitgeschleppten Instrumente, pardon: des equipments, bemessen zu werden sowie an der optischen Präsentation einer zirkusmäßigen Show mit ihren blendenden optischen Effekten. Was soll die Behauptung, hohe Lautstärke sei „ein Stilelement der Rock- und Popmusik, ob man sie nun genießen kann oder eher darunter leidet“? Das müsste im Umkehrschluss heißen: je lauter, desto stilvoller. An diesem Punkt offenbaren sich dessen Verfechter und Anhänger als Menschenverächter. Von allen Lebewesen hat der Mensch als einziges zahlreiche Potenziale zur Selbstzerstörung entwickelt; eines davon ist die Lautstärke. Wenn Musik in Geräusch und Lärm übergeht, dann ist sie zu Ende, abgeschafft, paralysiert, zur Anti-Musik geworden.

Mit ihren übertriebenen Fonzahlen und mit ihrer massenmedialen Präsenz erreicht die Popmusik einen diktatorischen Charakter mit unabsehbaren Folgen für die musikalische Bildung der Zukunft. Peter Jona Korn hat sich schon 1975 über die „Musikalische Umweltverschmutzung“ ausgelassen, und obwohl er mehr musikpolitische Seitenhiebe als akustische Schelte austeilte, ist der Titel seiner damaligen Schrift inzwischen programmatisch geworden. Der akustische Würgegriff, schon damals eine Variation des „unerquicklichen Themas“, erreicht uns heute alle mehr oder weniger ungewollt. Wenn mir ein Gemälde, ein Bauwerk, ein Gesicht, eine Landschaft missfällt, dann bin ich nicht gezwungen, meinen Blick dort fixiert zu halten; aber das Gehör kann man nicht abschalten. Der akustische Terror, dem kein gesunder Hörer entfliehen kann, wird in der Popmusik zu einem Prinzip erhoben. Es mutet schon seltsam an, dass in einer Zeit der strikten Ablehnung und der Überwindung autoritärer Strukturen ausgerechnet über die Hintertür einer angeblich neuen Kunstform eben diese inhumanen Verhaltensweisen neu aufgerichtet werden.

Die kollektiv wirkende Macht der Musik übt sich in Intoleranz durch Lautstärke. Popmusik ist in der extremen Form akustisch so zudringlich, als wollten die Darsteller ihre Minderwertigkeitskomplexe übertönen. Die „ohrenschmerzenden Lärmcollagen“ sind infolgedessen, heruntergedreht, auch als Hintergrundmusik völlig unbrauchbar. Was bleibt denn übrig, wenn bei einer Band plötzlich die Lautsprecher versagen? Das, was aus ihnen herausdröhnt, grenzt nicht selten an Körperverletzung mit Spätfolgen, von der „Rutschgefahr zum Suchtverhalten“ ganz zu schweigen. Und ich entsinne mich einer dpa-Meldung, wonach einer inzwischen ertaubten Besucherin eines Rock-Konzerts ein Gericht Schadenersatz zugesprochen hat.

Kann man ein zerstörtes Gehör, eines unserer empfindlichsten Sinnesorgane, irgendwie ersetzen? Kaum jemand erinnert sich jener bis zu 20 Prozent eines jugendlichen Jahrgangs mit irreparablen Gehörschäden, die sicher nicht alle bei Pop-Konzerten eingefangen wurden, denn der Missbrauch von Kopfhörern trägt einen hohen Anteil daran. Popmusik belegt mit ihrem Machtanspruch nicht nur die derzeitige gesellschaftliche Vermassung, sie ist auch Ausdruck der Agressivität, Unbarmherzigkeit, vor allem aber der Rohheit und Gefühlslosigkeit unserer Zeit. Das Protestpotenzial, das sich hinter vielen Texten verbirgt, so man sie überhaupt wahrnehmen kann, sei aber nicht geleugnet. Schließlich hat Musik seit je gesellschaftliche Strukturen, Prozesse und Inhalte reflektiert. Eine unmenschliche Popmusik und die grassierende seelische Versteppung reichen sich also die Hand.

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Einzig in dieser Argumentation sehe ich eine Legitimation, sich an den Musikschulen mit der Problematik der Popmusik als einer akustischen Seuche verstärkt auseinander zu setzen. Musik ist eine der Wurzeln menschlichen Daseins und die Musikschule sollte als eine Möglichkeit zur Erschließung und Aufbereitung dieses Wurzelgrundes dienen, nachdem die allgemein bildenden Schulen sich aus dieser Verpflichtung, die eigentlich aus ihrem Bildungsauftrag erwächst, weit gehend zurückgezogen haben. Aber auch die Popmusik muss auf Tradition gründen, will sie nicht wurzellos, damit synthetisch bleiben. Die Verfechter einer unbedingten Einführung von Popmusik als Unterrichtsfach an Schulen wie Musikschulen führen ihre Zöglinge in eine musikalische Unmündigkeit, aus der sie sich selten wieder befreien können. Die von Schnurrer angeführten Schlagworte von der „substanziellen Armseligkeit“ der Popmusik, von „Werteverwahrlosung“ und von „Werteumkehrung“ sind voll zu unterstützen, jenes mutmaßliche 10-Prozent-Quäntchen einmal ausgenommen.

Dagegen scheint mir Aufklärung angesagt, zumindest eine breite Diskussion. Mit dem Rückgang der musischen und dem parallelen Überhandnehmen der technischen Fächer an staatlichen Schuleinrichtungen, mit dem Verschwinden der häuslichen Musikkultur wuchs gleichzeitig den Musikschulen ein sehr verantwortungsvoller Auftrag zu: Defizite in der musischen Bildung zumindest teilweise auszugleichen. In unserer hochtechnisierten Welt ist die natürliche Lust zum Selbermusizieren und Singen von den Medien leider schon weit gehend paralysiert worden. Kinder verbringen lieber drei (oder mehr) Stunden täglich vor einem Bildschirm, als dass sie (nur) eine Stunde mit einem Musikinstrument üben. Was in diesen Lebensjahren nicht erarbeitet wurde, bleibt als unaufholbares Defizit lebenslang bestehen. Auftrag der Musikschulen sollte „Erziehung zur Musik“ sein, was mittels Popmusik eigentlich nicht zu leisten ist, wie Schnurrer richtig feststellt. Dies kann man auch anders sehen, aber das ideologische Netzwerk, in dem man sich dann befindet, lässt selten einen Rückweg zu.

Ich habe es als Mitglied von Kommissionen bei Aufnahmeprüfungen für das Lehramt im Fach Musik wiederholt erlebt, dass Abiturienten, die aus der Pop- bzw. Rock-Szene den Einstieg zur Klassik wagten, fast ausnahmslos wegen „substanzieller Armseligkeit“ und nicht mangels Begabung scheiterten. Wenn der schulische Musikunterricht zu 80 Prozent ausfällt, wenn die familiäre Musikpflege darnieder liegt, wenn das eigene Singen gegen Null tendiert, dann lockt der „Strohfeuercharakter“ der Popmusik die Jugendlichen in eine Falle, von der sie glauben, dies sei doch die musikalische Welt. Sogar in Situationen, wo dezidiert Rock- bzw. Pop-Musiker seitens der Komponisten gefordert werden, etwa in Musicals, ist die Versagerquote hoch. Viele von ihnen, die es ansonsten gewohnt sind, „unwiderstehlich“ und lautstark auf ihren Instrumenten zu dröhnen, sind nicht imstande, die partiturmäßig vorgegebenen Notentexte adäquat (und jedes Mal aufs Neue) zu reproduzieren, weil ihnen die traditionellen Voraussetzungen fehlen. (Nach der Aussage eines Klassik-Studenten, der auch in der Popmusik aktiv ist.)

Auf der anderen Seite kann jedermann die teilweise phänomenalen musikalischen Biografien der weltweit einschlagenden Nachwuchskünstler bewundern, die strahlenden Operndiven, die diversen Tenöre, die unglaublichen Fertigkeiten und Begabungen der nachkommenden Instrumentalsolisten: alles Leistungen auf der Basis unserer ererbten musikalischen Tradition. Auch die Ergebnisse des Förderwettbewerbs „Jugend musiziert“ zählen hierzu. Es spricht doch Bände, wenn zahlreiche Komponisten und Interpreten etwa aus fernöstlichen Kulturen sich ausgerechnet in der abendländischen Musik profilieren. Alle diese Musiker erreichen auch ein Massenpublikum, aber eben nicht die Massen.

Der Forderung nach „stärkerer Berücksichtigung des Pop-Bereichs an Musikschulen“ ließe sich mit einer ebensolchen nach Stärkung des musikalischen Traditionsbewusstseins begegnen, um einer drohenden Kulturlosigkeit und damit verbunden einer geistigen Verarmung breiter Bevölkerungskreise gegenzusteuern. Dies könnte etwa in Form der Einführung und Unterweisung in echter Volksmusik geschehen; oder durch verbesserte Förderung des jugendlichen Singens als Basis jeglichen Musizierens. Wir müssen in unserer Gesellschaft einen tragischen Verfall des individuellen Gesangs, ja der gesellschaftlichen Gesangskultur überhaupt konstatieren. Bereits Kinder im Vorschulalter trauen sich nicht mehr zu singen! Hier wird von klein auf eine meist irreparable Entfremdung zwischen Mensch und Musik angelegt.

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Mir scheint, es fehle eine der PISA-Studie vergleichbare Untersuchung der musikalischen Bildung in unserem Lande. Die Anfängermethodik etwa setzt in der musikalischen Praxis häufig ein unsäglich tiefes Niveau voraus, und es besteht der Verdacht, dass die Popmusik mit ihrer akustischen wie optischen Dominanz (etwa in diversen Fernsehkanälen, wo mehr oder weniger deutlich auch noch das Sexualbewusstsein gesteuert wird) bei den Jugendlichen falsches Bewusstsein und trügerische Verheißung erweckt, denen allzu viele nachzugeben bereit sind. Hier fungiert die Musik einmal mehr als „Mittel der Verdummung und des Rückschritts“. Ich möchte den Eindruck einer Pauschalierung vermeiden, aber meine Erfahrungen zeigen, dass derart programmierte junge Menschen für die übrige Musik meist verloren sind; die Derbheit, akustische Dominanz und häufige Primitivität der meist amateurhaft praktizierten Popmusik führen zu Abgestumpftheit gegenüber der sensiblen und oft anspruchsvollen Klassik.

Man könnte bei mancher Argumentation auch den Verdacht gewinnen, dass bei zunehmenden pädagogischen Probleme in den Musikschulen in der Popmusik ein willkommenes Ausweichziel und ein dankbares Experimentierfeld gesehen wird, um die Schülerzahlen zumindest zu erhalten.

Eine künftige Aufgabe der Musikschule könnte und müsste sein, an diesen sowie an allen weiteren hier angesprochenen Punkten steuernd einzugreifen in dem Sinne, die Schüler anzuleiten, auch im Bereich populärer Stile die Spreu vom Weizen zu trennen. Insofern steht die Didaktik der Popmusik tatsächlich noch in den Kinderschuhen. Basis sollte aber immer unsere ererbte Musiksprache sein. Es ist die eine Seite, Popmusik als Massenphänomen aus soziologischer wie aus musikpraktischer Sicht zu bewerten, ihre vielen verzerrten Beziehungen, die aufgebauschten Idole zu entthronen, die Scheinwerte zu entlarven. Und es ist eine ganz andere Frage, was in diesem Bereich tatsächlich zu tun sei und in welche Richtung, damit sie nicht auf einen falschen Rang gehoben wird. Man könnte die Forderung nach permanenten empirischen Untersuchungen der gesellschaftlichen Auswirkungen und Funktionen von Popmusik erheben, denn sie wird uns als ein Problemfeld erhalten bleiben. Nur, es müssten dann auch entsprechende Konsequenzen abgeleitet werden, sprich: die notwendigen Kompromisse müssen gefunden werden. Adorno hat den Begriff von der „gegängelten Musik“ geprägt; wir müssen ihn auf die Akteure der Popmusik übertragen. Mit dem Druck auf eine der Rhythmus-Tasten seines Keyboards etwa überträgt der Spieler einen Teil seines musikalischen Willens auf die Technik. Der homo mechanicus, das von Technik manipulierte Individuum, kann nicht als Abbild zeitgemäßen ästhetischen Empfindens gelten – das mag nur im Einzelfall zutreffen, nicht generell. Auch als Zukunftsmodell scheint er mir nicht vorstellbar.

Aufgabe der Musikpädagogik allgemein muss es sein, jene Maß gebenden 10 Prozent ernst zu nehmender Popmusik-Kunst ausfindig zu machen, sie didaktisch aufzuschlüsseln und als pädagogischen Standard weiterzugeben. Auch dann werden sie ihre musikhistorische Relevanz noch beweisen müssen. „Dass eine Kunst gesellschaftlich akzeptiert ist, verbürgt nie ihre gesellschaftliche Wahrheit und weist heute eher auf deren Gegenteil“, hat Adorno schon 1956 festgestellt. Da war von Popmusik noch keine Rede, eher von „popular music“ im Sinne von Schlager. Über diesen Aphorismus sollten alle diejenigen, die vom virus fanaticus der Popmusik infiziert sind, einmal ernsthaft nachdenken. Für mich jedenfalls – und ich glaube, damit nicht alleine zu stehen – hat die diktatorische Popmusik ihren Kampf gegen die subtilere Klassiksparte noch nicht gewonnen, auch wenn ich für diese Ansicht mit einem mitleidsvollen Lächeln bedacht werde.

Jürgen Libbert, Regensburg