Röbke, Peter

Pop-Präsentation als Rettung?

Geht das klassische Konzert an seinen Darbietungs- und Rezeptionsidealen zugrunde?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2001 , Seite 16

Die E-U-Spaltung entsteht

In der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung wird im Juli 1828 aus Anlass des Erscheinens von Beethovens op. 131 eine Besprechung veröffentlicht, die anklingen lässt, dass nicht mehr jedermann in der Lage sei, dem ästhetischen Anspruch der Musik gerecht zu werden. Wir haben es hier mit einem Dokument zu tun, das ein Licht auf die beginnende Spaltung in “U”- und “E”-Musik wirft, auf jene Dichotomie, nach der Musik, bei der man sich “unterhalten” (auch im Wortsinne!) darf, streng zu scheiden ist von jener, die die volle und ernsthafte Hinwendung erwartet. “Das Publikum müssen wir, in Hinsicht auf Musik […] unter zwey, dem Sinne und den Neigungen, wie der Zahl nach, höchst verschiedenen Classen betrachten: die eine will, hörend oder ausübend, durch Musik sich nur amüsieren, einen Zeitvertreib schaffen; die zweyte will ihren gesammten innern Menschen, nach allen seinen Kräften und diese möglichst gleichmässig, erregen, beschäftigen, neu beleben, heben, stärken, fördern; wozu selbst gehört, wenn sich Gelegenheit bietet, ihn erweitern durch Neues, das man hinzulernt. Die erste Klasse, meinen wir, wird wohlthun, auf jene neuesten Werke Beethovens zu verzichten; sie wird […] sie mit dem vollkommen begründeten Worte, wozu sie vollständiges Recht hat: sie sind nicht für mich; ich bin nicht für sie – auf sich beruhen lassen.”1

Immer mehr wird fortan die Idee der absoluten Musik verfolgt werden, einer Musik, die deshalb absolute Musik ist, weil sie vom Vollkommenen, vom Absoluten, vom nicht mehr in Worten Sagbaren spricht (sie sei “Stimme des Geisterreichs” sagt E. T. A. Hoffmann2), die aber auch absolutus im Wortsinne ist, losgemacht, befreit etwa von aristokratischen oder bürgerlichen Repräsentationsbedürfnissen, emanzipiert von Zwecken aller Art (selbst von jenen der Gefühlserregung). Und schließlich wird Eduard Hanslick 1854 formulieren, dass Musik nichts anderes sei als “tönend bewegte Form” und das Komponieren Arbeit des Geistes in geistfähigem Material: Ein Werk hat nur den eigenen immanenten Gesetzen zu gehorchen, Durchgearbeitetsein und Autonomie sind seine Qualitätskriterien und “das Schöne der Tondichtung ist ein spezifisch Musikalisches […] ein Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von außen her kommenden Inhalts, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt”.3

Absolute Musik und körperlose Rezeption

Dieser Emanzipationsprozess, dieser Fortschritt, Kunst nur um ihrer selbst willen zu betreiben, hat seinen Preis: “Die Vorstellung von Kultur an sich hat ihre Wurzeln in einer Art Askese, also der Weigerung, sich seinen unmittelbaren Primärbedürfnissen zu beugen.”4 Der Gewinn an Autonomie bedeutet einen Verlust an Einbindung ins Leben.

Wenn von Askese oder Bedürfnisaufschub die Rede ist, kommt uns sogleich das moderne Konzert in den Sinn, das mit der Idee der absoluten Musik in engem Zusammenhang steht: Gefordert sind Konzentration, Hingabe, Gebanntheit, Eintreten in eine andere Welt; das heißt aber auch: abgedunkelte Säle, stillgestellte Körper, Verzicht auf spontane Begeisterungs- oder Unmutsäußerungen, Tabuisierung aller Formen des körperlichen Mitvollzugs – nur im Abschlussbeifall darf sich die Erregung kontrolliert entladen.5 (In Wien darf man im Neujahrskonzert beim letzten Stück sogar mitklatschen – aber wirklich erst beim letzten Stück: Neuerdings wird dieses – von Nicolaus Harnoncourt – zu Beginn des Konzerts als reines Hörobjekt, als “Werk” zusätzlich vorgeführt…) Während des Konzerts allerdings, in den langen Minuten vor dem Schlussapplaus aber hat sich alle Aufmerksamkeit auf das Werk zu richten: Der wache Geist der Zuhörerschaft sucht dessen Tiefsinn zu erfassen, die Rezipienten sind auf das Verstehen einer ästhetischen Botschaft aus, im hermeneutischen Sinne ist die Verschmelzung der Horizonte von Hörersubjekt und Werkobjekt das Ziel (und man beachte besonders: Die Interpreten haben eine dienende Funktion, ihre Tätigkeit ist allein dazu da, dem Werk Gestalt zu geben, sie sollen sich nicht auf dessen Kosten in den Vordergrund spielen).

Konzertleben im 19. Jahrhundert: Zwischen Zirkusveranstaltung und Werkorientierung

Das hier beschriebene Paradigma, das uns so selbstverständlich vorkommt, ist historisch gesehen sehr jung, oder anders gesagt: Die Geschichte des Konzertlebens im 19. Jahrhundert zeigt, dass jene Maßnahmen, die ungestörte Konzentration auf das Werk erlauben, erst sehr spät ergriffen wurden. Um nur Weniges zu nennen: Die Verdunklung der Konzertsäle wird erst um die Wende zum 20. Jahrhundert hin vorgenommen und Gustav Mahler war es, der den Zuhörerraum der Wiener Staatsoper verdunkeln ließ und das Kartenspielen in den Logen verbot. Im Berliner Konzertleben wurde wohl erstmals in einer Streichquartett-Reihe des Klingler-Quartetts in der Saison 1909/10 auf das Klatschen zwischen den Sätzen eines Werks verzichtet. Die Reduktion von bis zu fünfstündigen Potpourriprogrammen auf wohlüberlegte und fassliche Konzerte im heute gewohnten Umfang geht nur allmählich vor sich, und der Gedanke, dass im Mittelpunkt eines Konzerts die Sinfonie steht und nicht das Solokonzert, das virtuose Selbstdarstellung erlaubt, greift erst allmählich Platz: “Erst unter Arthur Nikisch gelang [in den Leipziger Gewandhauskonzerten] die Durchsetzung des Orchesterkonzerts, bei dem lediglich zwei Sinfonien von Beethoven, Brahms oder Bruckner auf dem Programm standen; das erste dieser ,solistenfreien Konzerte’ fand im Winter 1906/07 statt.”6

Eher die Ausnahme ist das ästhetische Konzept der 1845 von John Ella gegründeten Kammermusikvereinigung “Musical Union”, die versuchte, “das klassische Repertoire bevorzugende Kammermusikkonzerte zu geben, die den höchsten künstlerischen Ansprüchen zu genügen trachteten”. Von seinem Publikum forderte Ella (ich zitiere die Devise, die er über seine Konzertprogramme setzte): “Il ne suffit pas que l’artiste soit bien préparé pour le public, il faut aussi que le public le soit à ce qu’on va lui faire entendre.” (“Es genügt nicht, dass der Künstler für sein Publikum gut vorbereitet ist, auch das Publikum muss vorbereitet sein auf das, was man ihm zu Gehör bringt.”) Diesem Anspruch entsprechen auch die gedruckten Einführungen, die Ella ausgeben ließ und die nicht nur Informationen zu Komponist und Werk, sondern auch eine so genannte “synoptical analysis” enthielten, “bei welcher er mit Hilfe von Notenbeispielen die exponierten Themen und deren Verarbeitung dem Hörer leichter erkennbar zu machen versuchte”.7 In diesem Zusammenhang haben wir auch das Erscheinen der ersten Taschenpartituren im Jahr 1886 zu sehen.

Kennzeichnend für das Konzertleben im 19. Jahrhundert ist dagegen zunächst die Gigantomanie von Musikfesten, Konzertsälen oder Zahlen von Mitwirkenden und Aufführenden: Beim Weltfriedensfest in Boston dirigiert Johann Strauß 1872 gemeinsam mit 100 Unterdirigenten eine Schar von 20000 Sängerinnen und Sängern und ein tausendköpfiges Orchester, dem sich noch eine eben so große Zahl von Musikern in Militärkapellen beigesellte. Strauß berichtet, dass eine 100000-köpfige Zuhörerschaft dem Spektakel in einer eigens für diesen Anlass errichteten Riesenhalle lauschte. Berlioz war in Paris für monumentale Produktionen berühmt und berüchtigt: “Für das ,Grand Festival de l’Industrie’ bot er [im Jahr 1844] ein Konzert dar, für das er ungefähr alles, was in Paris einigen Ruf als Chorist oder Instrumentalist genoß, verpflichtet hatte. Insgesamt 1022 Mitwirkende waren damals in dem nüchtern-schmucklosen Maschinensaal des am nächsten Tage bereits wieder abgerissenen Veranstaltungsgebäudes versammelt gewesen, denen Berlioz, zusammen mit zwei Subdirigenten für die Blasinstrumente und das Schlagwerk sowie fünf weiteren für den Chor, als Leiter vorstand.”8 Gespielt wurde u.a. Beethovens Fünfte: Die Solostelle der Kontrabässe im Scherzo muss angesichts von 36 Spielern dieses Instruments besonders beeindruckend gewesen sein! Man spielte in Paris auch in riesigen stationären Zirkuszelten oder in London in Ausstellungshallen; erstaunlich schließlich ist auch das Fassungsvermögen der 1871 in London erbauten Royal Albert Hall, die 12000 Besucher aufnehmen konnte.

Ein prägender Zug ist weiterhin die Zurschaustellung von musikalischen “Artisten”: Die Hysterie, die Paganini, Liszt oder Jenny Lind, die “schwedische Nachtigall”, auslösen konnten, ist bekannt – sie wurde von gewieften Impresarios wie Phineas Taylor Barnum durch geschicktes Marketing wie z. B. die öffentliche Versteigerung von Eintrittskarten gezielt angefacht. Auch die “Taktstockvirtuosen”, selbstverliebte und sich selbst inszenierende Dirigenten, vermochten Anbetungsbedürfnisse des Publikums zu erfüllen. Hans von Bülow trat nicht ohne weiße Glacé-Handschuhe auf, Liszt neigte dazu, auf extrem überhöhten Podien das Dirigat feierlich zu zelebrieren, von Artur Nikisch etwa “glaubte man allen Ernstes, seine berühmten Hände sollten geschminkt, sein Auftreten, Grüßen und Danken einstudiert sein”.9 Schließlich wurden – im Spekulieren auf die Sensation – Wunderkinder oder Damenkapellen ebenso auf die Bühne gebracht wie z. B. ein in London seit 1846 aus schwarzen Äthiopiern bestehendes Ensemble, von dem man erwartete, dass es “compositions of the great European masters in such a grotesque manner”10 vortrug.

Schließlich geht es um Befriedigung von nicht nur geistigen, sondern auch fleischlichen Bedürfnissen: Man ergeht sich in den großen Konzertgärten in Paris, London, Berlin oder Warschau, nimmt Gefrorenes zu sich oder einen guten Wein und lauscht dabei der Musik, die nicht nur aus Quadrillen, Polkas oder Walzern besteht. Bei den “Concerts Musard” auf den Champs-Élysées etwa konnte man “an demselben Abend Beethoven’s und Rossini’s, Mozart’s und Mendelssohns’s Meisterwerke”11 hören. Im Amsterdamer Konzertsaal “Felix Meritis” war es um 1830 durchaus üblich, dass gegen Ende des ersten Programmteils die Herren im angrenzenden Saal verschwanden, um zu rauchen: “Aber die Damen haben nicht Zeit, die Nase darüber zu rümpfen, denn ihnen wird alsbald Chocolade und Limonade gereicht; indem sie sie geniessen, unterhalten sie sich miteinander.”12

Wenn wir uns dieses historische Panorama vor Augen stellen, dann ist es gar nicht so neu, wenn etwa die Berliner Philharmoniker mit bunten “Harlekin-Programmen” die 30000 Zuhörer fassende Berliner Waldbühne bespielen oder gemeinsam mit der Rockband Scorpions die EXPO in Hannover eröffnen oder wenn im Wiener Konzerthaus die Bestuhlung ausgeräumt wird, damit sich die Zuhörer zu den Klängen von klassischen Highlights wie Bolero frei bewegen können (die “Band” auf der Bühne: die Wiener Philharmoniker). Oder wenn Anne-Sophie Mutter ihre Einspielung der Vier Jahreszeiten mit einer Kampagne bewirbt, die die optischen Vorzüge der Interpretin ins rechte Licht rückt (in einem amerikanischen Magazin wird Mutter prompt zum “classic babe” erklärt; in der Zeitschrift Amadeus ist sie Teil einer Geschichte über die Power-Frauen der Musik – neben Madonna oder Tina Turner…). Ob das nun ” Crossover” ist oder der Triumph des Prinzips Pop über das Prinzip Klassik – dazu später.

Zuspitzungen: Schönberg und Adorno

Aber wenn sich das Ideal der Hinwendung zu absoluter Musik auch erst spät und nie vollständig durchgesetzt hat, ja selbst wenn es so sein sollte, dass immer noch das Sinfoniepublikum in seiner Mehrheit eher auf schöne Stellen lauert, als den Formsinn des Kunstwerks erfassen will: Der Anspruch auf Kunstwerkorien-tierung gilt (und wer während des Konzerts einschläft, hat ebenso ein schlechtes Gewissen wie der, der in den Satzpausen applaudiert, oder jener, der von seinen pikierten Nachbarn darauf aufmerksam gemacht wird, dass er selbstvergessen mitgesungen, sich mit dem Oberkörper mitbewegt oder mit den Füßen mitgeklopft hat).

Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen ist quasi der Inbegriff dieses Rezeptionsmodells: Die konkrete Ankündigung der aufzuführenden Werke wurde vermieden um auszuschließen, dass das Publikum nur seinen bequemen Vorlieben folgt – man wusste vorher schlicht nicht, was gespielt wurde -, die private Mitgliedschaft im Verein garantierte ein handverlesenes und kundiges Publikum, Beifallskundgebungen waren selbst nach der Darbietung streng verboten und es wurden nur Musiker ohne jede Virtuosen- oder Starallüre zugelassen.13

Was Schönbergs Verein für die Konzertdurchführung war, sind Adornos Typen musikalischen Verhaltens für die Ansprüche an die Hörer. An der Spitze seiner Werthierarchie des musikalischen Verhaltens, die auch die Musikpädagogik stark beeinflusst hat, steht der strukturelle Hörer, der Experte (und die anderen Hörertypen – etwa der Bildungshörer, der emotionale Hörer oder gar der Jazzfan und der Unterhaltungshörer – kommen recht schlecht weg). Der Experte allein ist der angemessene Widerpart des Komponisten und er wäre “als erster Typus, durch gänzlich adäquates Hören zu definieren. Er wäre der voll bewußte Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt. Wer etwa, zum erstenmal mit einem aufgelösten und handfester architektonischer Stützen entratenden Stück wie dem zweiten Satz von Weberns Streichtrio konfrontiert, dessen Formteile zu nennen weiß, der würde, fürs erste, diesem Typus genügen.”14

Die Folgen…

Der Leser/die Leserin wird jene “Streichquartett-Freaks” kennen, die zumeist selbst ein Streichinstrument spielen und Abend für Abend in anderen Zusammensetzungen musizieren, die aber auch – mit der Partitur in der Hand und der relevanten Streichquartettliteratur im Kopf – das Rückgrat des gebildeten Kammermusikpublikums bilden. Der Typus scheint – wenn ich Berichten von Kollegen, die professionell Quartett spielen, trauen darf – zumindest in Deutschland im Aussterben begriffen zu sein: Zunehmend weniger werden die Einladungen, die durch Konzertvereinigungen ausgesprochen werden.

Abgesehen vom Wiener Konzerthaus und vom Wiener Musikverein, von der Carnegie Hall und vom Amsterdamer Concertgebouw klagen die großen Stätten der bürgerlichen Musikkultur über katastrophale Auslastungsziffern. Besonders in London ist man ständig mit Diskussionen über die Zukunft der “western classical music” konfrontiert. Dass BMG im letzten Jahr seine Klassik-Abteilung geschlossen hat, fügt sich ebenso ins Bild wie das hohe Durchschnittsalter des Abonnementpublikums.

Die in einem langen historischen Prozess errungene Zweckfreiheit der Opusmusik raubt dieser heute das Publikum, das einen blutvolleren und lebendigeren Umgang mit E-Musik sucht. Und so kann es nicht verwundern, wenn die von Klaus-Ernst Behne befragten Jugendlichen die real erklingende Klassik in einem höheren Maße schätzen als das Label “Klassik”: Behne spricht zu Recht von einem Bonus des Klingenden (gegenüber einem Malus der Etikettierung “ernsthafte Musik”). Nicht das Klangbild Mozarts oder Mahlers ist es primär, das abschreckt, sondern die vom Ideal des autonomen Werks erzwungene körperlose Rezeption. Im Kontext des Amadeus-Films von Milos Forman hat niemand ein Problem mit Mozart-Sinfonien, und wenn Metallica mit einem Sinfonieorchester tourt, wirkt der “Klassik”-Sound eher emotionssteigernd und nicht rezeptionsverhindernd.

Das Prinzip Klassik – das Prinzip Pop

Das Vorbild für Anne-Sophie Mutters Kampagne ist möglicherweise die Aufnahme von Vivaldis Vier Jahreszeiten durch Nigel Kennedy (die in der Folge zur meist verkauften Klassik-Platte aller Zeiten wurde) und das begleitende Video, das beim Filmfestival Montreux 1990 die Goldene Rose erhielt und das einen entfesselt aufspielenden und punkig gekleideten Nigel Kennedy vor einem etwas irritierten Ensemble englischer Orchestermusiker zeigt, die je nach “Jahreszeit” ausgeleuchtet werden und z.B. beim “Sommer” die Sonnenbrillen aufzusetzen haben.

Hier wird Musik auf durchaus neue Art vermittelt – mit interessanten Akzentverschiebungen gegenüber dem oben skizzierten Ideal. Der Interpret wird zum sich selbst inszenierenden Star (die Inszenierung der dahinter agierenden “Band” wirkt allerdings reichlich unbeholfen…), in Entsprechung dazu mutieren die Zuhörer zu Fans, spontane emotionale Kundgebungen sind denkbar, Vivaldis Musik – die ohnehin barocke Überwältigungs- und nicht subtile “Werkmusik” ist – wird zur Projektionsfläche: Der Zuhörer will nicht etwas Fremdes verstehen, sondern sucht Identifikation, Stimuli für Emotionen, einen Spiegel für die Befindlichkeit.

Sollte man im Fall Kennedys, aber auch im Blick auf die oben erwähnten Aktivitäten der Berliner Philharmoniker das Zauberwort der Marketing-Abteilungen in den Mund nehmen und von ” Crossover” sprechen? Crossover bedeutet wörtlich Kreuzungsstelle oder Überschneidungspunkt, d. h. wenn der Begriff zuträfe, dann ginge es um Grenzüberschreitungen, um wechselseitige Durchdringungen einst getrennter Sphären und um Austauschprozesse zwischen Teilkulturen. In diesem Verständnis wäre Crossover z.B. ein von alpenländischer Volksmusik zehrendes Haydn-Menuett oder ein Sinfoniesatz von Gustav Mahler, der Trivialmusik aufnimmt.

Was aber bei dem eben erwähnten Phänomen vorgeht, ist meines Erachtens etwas prinzipiell anderes: Es triumphiert das Prinzip Pop über das Prinzip Klassik. (Wir haben oben allerdings gesehen, wie historisch eingeschränkt dieses nur gilt!) Es geht nicht darum, dass aus Vermischung etwas Neues entsteht, sondern darum, dass eine bestimmte Weise der Produktion, Präsentation und Rezeption von Musik eine andere ersetzt. Anders formuliert: Stilmerkmale können vermischt, rhythmische Prinzipien übernommen, sentimentale Melodien verfremdet, kompositorische Verfahren adaptiert werden, aber Oberfläche und Tiefsinn sind unvereinbar. Das autonome, seinen eigenen Gesetzen gehorchende Werk und der Anspruch auf augenblickliche Wirkung verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser, Star und Interpret sind inkompatible Kategorien, strukturelles Hören und Sich-Überwältigen-Lassen sind einander ausschließende Rezeptionsweisen.

Wir sind mit dem folgenden Wandel konfrontiert: den vom strukturierten Werk zum Hit, dessen Soundoberfläche interessiert, vom dienenden Interpreten zum Star, dessen Stil, dessen Körperlichkeit und Erotik bewegen, vom sich versenkenden Zuhörer zum enthusiasmierten und mitgehenden Fan, vom Verstehen zum Überwältigtsein. Auf breiter Front schreitet dieser Prozess einer neuen Vermittlung von Musik voran, bei dem der als Star ausgestellte Interpret bewusst dem Publikum seine durchgestylte Außenseite zuwendet. Aber um es deutlich zu sagen: In Frage steht hierbei nicht die klassische Musik als solche, sondern zur Disposition stehen die Idee der absoluten und autonomen Musik und die dieser Idee korrespondierenden Konzertrituale.

Interessanterweise haben dabei Solisten oder kleine Ensembles einen Startvorteil gegenüber den vergleichsweise gesichtslosen und anonymen Orchestern, und so ist es vielleicht kein Zufall, dass gerade in der Gattung des Streichquartetts viele Beispiele für das Aufbrechen des Konzertrituals zu finden sind. Man kokettiert zunächst mit den kultivierten Gepflogenheiten der Streicherkammermusik, wenn etwa die vier Cellisten von Apokalyptica auf dem Cover ihrer ersten CD präzise Angaben über die historische Herkunft der Instrumente, deren Besaitung und das verwendete Kolofonium machen; und dann – nach dem Auflegen der CD – halten die Lautsprecher kaum die Wucht der von Apokalyptica gespielten Stücke der Schwermetall-Band Metallica aus. Weitere Beispiele: die durchgestylten Kronos-Quartettspieler, das New Yorker Brodsky-Quartett, das für Schostakowitsch die Lederjacke überwirft, das wilde Balanescu-Quartet, die vier Mädchen von Bond (einer Kreuzung aus Vanessa Mae und den Spice Girls) usw.

“classic goes pop” – Verfall oder Ausweg?

Wenn Worte wie Tiefsinn oder Oberfläche fallen, könnte es scheinen, als würden mit den Begriffen Werturteile verbunden. Das liegt mir fern, habe ich doch tiefen Respekt vor jenen, die auf kunstvolle und professionelle Weise Oberflächen designen, vor den Soundkreationen des Duos Kruder und Dorfmeister ebenso wie vor den Stilerfindungen Madonnas. Die Ausführungen Sven Gächters über Schönheit und Geheimnis des Pop, mit denen ich mich voll identifizieren kann, sollen der Vermutung wehren, die Pop-Ästhetik sei etwas Unterlegenes oder Niedrigeres: “Im ‘POP!!’ des aufplatzenden Maiskorns, diesem fröhlichen und ad infinitum wiederholbaren Knalleffekt ist das ganze Wesen der Popkultur konzentriert: ihre Diesseitigkeit, ihre Schwerelosigkeit und ihre notorische Flüchtigkeit. ,Fluffiness’ heißt das wortmalerisch im Englischen, und der kurze entscheidende Moment, in dem dieser Aggregatzustand erreicht wird, markiert im Pop das Maß aller Dinge; wer mehr erwartet, ist schon auf dem Holzweg. Die Suche nach anderen als rein oberflächlichen Dimensionen führt im gravitationsfreien Universum des Pop schnurstracks ins Leere, weil die Wahrheit immer schon und immer nur an der Oberfläche selbst liegt. Pop ist das schillernde Medium des Vordergründigen, Eindimensionalen, des Unvermittelten und Beliebigen. Es gibt keine dunklen Geheimnisse, keine doppelten Böden und keine kunstvoll kodierten Bedeutungen zu entdecken. Alles dreht sich um Form und Verpackung, und je weniger dabei verpackt wird, umso unverfälschter kann sich das Grundprinzip reproduzieren – die Illusion einer Aura zu erzeugen, die keinen tieferen Kern in sich birgt. Das ist nicht etwa die hässliche Seite von Pop, das ist die Quintessenz seiner nie versiegenden Schönheit.”15

Wenn die Klassik in Vermittlungsformen des Pop aufgeht, verfällt sie nicht, sondern wird etwas anderes, das nicht schlechter sein muss. Nicht nur, dass der Kulturpessimismus unangebracht ist: Vielleicht liegt in den genannten Beispielen sogar ein Potenzial der Befreiung, eine Möglichkeit der Rückkehr zur Verflechtung von Leben und Kunst (im Sinne des 18. und 19. Jahrhunderts) auf neuem Niveau. Im übertragenen Sinn finden wir dann das Haydn-Divertimento im Kontext einer esterhazyschen Lustbarkeit wieder, die Zauberflöte im Kontext des schikanederschen Vorstadt- und Arme-Leute-Theaters, die Strauß-Walzer im Kontext des Tanzbodens (anstatt dass Harnoncourt im Jahr 2000 dafür den österreichischen AMADEUS-Preis für die beste Klassik-Einspielung erhält…).

Das heißt: Es darf dann im Konzertsaal auch wieder gelacht und geweint werden – ohne Rücksicht auf jene Art musikalischer Bildung, die Mauricio Kagel einst so karikierte: “In der Schöpfung gibt es die berühmte Stelle, wo Haydn die Tiere imitiert. Ich habe sie gestern wieder im Konzert gehört und mich wieder gewundert, dass kein Mensch gelacht hat. Kein Lächeln, nichts. Sie nehmen alles für bare Münze. Das ist eben Bildung, wenn man sich nicht freut.”16

Schließlich: Steht vielleicht nur ein spezifisch deutsch-österreichischer Umgang mit Werkmusik zur Disposition? In der Arena von Verona geht es anders zu als in der Wiener Staatsoper und der französische Musikfreund käme nicht auf den Gedanken, den Effekt oder die pure Sinnlichkeit von Klängen gering zu schätzen. Hanslick, Schönberg und Adorno sind eben nur in einem bestimmten kulturellen Umfeld vorstellbar.

1 zit. nach Dieter Rexroth: Beethoven, Mainz 1982, S. 460.
2 oder auch: “Das Wesen der höheren Instrumentalmusik namentlich besteht darin, in Tönen das auszusprechen, was in Worten unaussprechbar ist” (Richard Wagner); vgl. zu diesem Komplex Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978.
3 Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, Wiesbaden 161975, S. 58.
4 Pierre Bourdieu: “Kultur in Gefahr”, in: Der Standard, 10.6.1999, S. 18.
5 “In einer anderen Dimension nun aber fungiert das Klatschen auch als Befreiung. Die Zuhörer konzentrierten sich auf die Musik, sie waren durch sie gefangengenommen, waren in eine andere Welt versetzt, ‘waren weg’, waren gefordert und gefesselt. Und auf diesen Druck, die Hingabe und Gebanntheit, reagiert das Publikum emotional mit einer geräuschhaften Entladung, womöglich verbunden mit dem spontanen Sicherheben von den Sitzen.” (Hans Heinrich Eggebrecht: Die Musik und das Schöne, München 1997, S. 78).
6 Heinrich W. Schwab: Das Konzert, Leipzig 1971, S. 16 (Musikgeschichte in Bildern, Band IV/1).
7 alle Zitate in diesem Abschnitt nach Schwab, S. 118.
8 ebd., S. 102.
9 ebd., S. 182.
10 ebd., S. 156.
11 Illustrierte Zeitung, Leipzig 1861; Schwab, S. 132.
12 Charlotte Moscheles, zitiert nach Schwab, S. 74.
13 “Bei den Aufführungen sind alle Beifalls-, Mißfalls- und Dankesbezeugungen ausgeschlossen. Der einzige Erfolg, den der Autor hier haben soll, ist der, der ihm der wichtigste sein müßte: sich verständlich zu machen.” Aus dem von Alban Berg entwickelten Prospekt des Vereins, zitiert nach Horst Weber (Hg.): Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, München 1984, S. 5 (Musik-Konzepte 36).
14 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 14, Frankfurt/Main 1973, S. 181 f.
15 Sven Gächter: “A Wop Bop. A Loop Bop”, in: profil 1, 31.12.1999, S. 116.
16 Mauricio Kagel, in: Werner Klüppelholz: “Was ist musikalische Bildung? Ein friedliches, weil fiktives Streitgespräch”, in: Üben & Musizieren 2/1984, S. 91.

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