Herbst, Sebastian

Wenn die Kamera hospitiert

Videobasierte Reflexion im Instrumentalunterricht

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

Der Instrumentalunterricht an Musikschulen findet häufig hinter geschlossenen Türen statt. Dabei bieten Hospitationen und Analyse videografierter Unterrichtsstunden ein großes Potenzial zur Reflexion des eigenen Unterrichts und eignen sich methodisch hervorragend für Fort- und Weiterbildungen.

Besonders Lehrende derjenigen Fächer, die ihre SchülerInnen zu einem großen Teil im instrumentalen Einzelunterricht unterrichten, empfinden die Anwesenheit einer weiteren Person oder gar einer Kamera gelegentlich als unangenehm und nehmen sie als Eindringen in einen sonst geschützten Raum wahr. Das ist nachvollziehbar. Man fühlt sich beobachtet, bewertet oder kritisiert und es besteht die Sorge, dass kreative und künstlerische Prozesse dadurch gestört werden. Methoden der Unterrichtsvideografie bieten aber viele Vorteile und lassen sich nutzen, um hin und wieder den eigenen Unterricht allein oder im Austausch mit anderen Lehrenden zu reflektieren sowie methodisch und inhaltlich weiterzuentwickeln.
Dieser Beitrag soll Hemmungen und Ängs­te gegenüber der Videohospitation abbauen und zur Nutzung dieser Methode ermutigen, indem Möglichkeiten und Potenzial dieser Methode näher betrachtet werden.

Vorteile der Videohospitation

Instrumentalunterricht ist durch verbale und nonverbale Kommunikation, durch das Spiel auf dem Instrument und durch ständige Interaktion zwischen Lehrenden, Schü­lerInnen und Instrument besonders vielseitig. „Zahlreiche Aktionen finden gleichzeitig statt und bieten diverse Beobachtungsmöglichkeiten, sodass die Situation kaum von einem einzelnen Beobachter angemessen wahrgenommen“1 und in einem anschließenden Gespräch angemessen in Erinnerung gerufen werden kann. Daher sind Unterrichtshospitationen mit anschließendem Austausch allein nicht ausreichend und ­unzeitgemäß.
Heute ist es ohne großen Aufwand möglich, Videos per Smartphone oder Camcorder in ansprechender Qualität aufzuzeichnen. Die aufgezeichneten Videos einer sinnvoll platzierten Kamera erlauben im Anschluss, einzelne Unterrichtssequenzen wiederholt abzuspielen und dabei unterschiedliche Beobachtungsperspektiven einzunehmen. Der konkrete Wortlaut, alle Interaktionsprozesse sowie das instrumentale Spiel sind wiederholt abspielbar und können zur Grundlage einer eigenen oder mit anderen Lehrenden gemeinsamen Betrachtung und Reflexion werden. „Das mehrmalige Anschauen einer Sequenz unter deutlicher Zuspitzung eines Beobachtungsaspekts und unter Einnahme der unterschiedlichen Perspektiven der Akteure ermöglicht eine detaillierte Analyse“,2 die dazu führen kann, dass wir unseren Unterricht besser verstehen. Waren unsere verba­len Hinweise nicht klar formuliert? Haben die begleitenden nonverbalen Äußerungen die verbalen Äußerungen unterstützt oder für Verwirrung gesorgt? Welchen Eindruck macht eigentlich die Schülerin? Hat sie es nicht richtig verstanden und wie scheint es ihr überhaupt zu gehen? Ist sie motiviert oder eher lustlos?
Viele weitere Faktoren wären denkbar, die dazu führen, dass eine oder gar eine Reihe von Unterrichtsstunden nicht so verläuft, wie wir es uns erhofft und zuvor geplant haben. Die Videohospitation ermöglicht uns, diese vielseitigen und manchmal versteckten Faktoren aufzudecken, um sie wahrzunehmen und daran zu arbeiten. Lehrende finden es bei der Betrachtung ihrer Unterrichtsstunden immer wieder spannend, Merkmale des eigenen Unterrichtens wahrzunehmen, sie entdecken dabei neue, ungekannte Seiten an sich und geben an, sich dadurch stetig weiterentwickeln zu können. Aus Angst vor Kritik entsteht ein konstruktiver Umgang mit Feedback, der sich positiv auf das Unterrichten und die Lehrerpersönlichkeit auswirkt.

Unterstützung durch die Forschung

Zur Erforschung unterschiedlicher musikpädagogischer Fragestellungen greift auch die Unterrichtsforschung immer häufiger auf Methoden der Videografie zurück, „um die Unterrichtswirklichkeit in ihrer Komplexität analysierbar machen zu können“.3 Auch hier werden durch die Zuspitzung der musikpädagogischen Fragestellung, eines Beobachtungsaspekts und durch Einnahme unterschiedlicher Perspektiven spezifische Prozesse des Instrumentalunterrichts mit dem Ziel der Verbesserung von Unterricht und Lehrer(fort)- bildung analysiert, sodass diese Ergebnisse für die Praxis nutzbar gemacht werden können. Der für die jeweilige Fragestellung entstehende Korpus an Videodaten erweist sich dabei als nützlich, um praxisorientiert in der Lehrer(fort)bildung zu arbeiten.
Häufig werden die Videos in Transkriptionen überführt, die den genauen Wortlaut festhalten. Die Ausführlichkeit von darin enthaltenen weiteren Anmerkungen kann sich aber je nach Fragestellung stark unterscheiden. Besonders geeignet scheinen jedoch Transkriptionsverfahren zu sein, die die Vielseitigkeit des Instrumentalunterrichts erfassen, indem sie mittels Partiturdarstellung sowohl verbale als auch nonverbale Äußerungen mehrerer gleichzeitig agierender SprecherInnen festhalten sowie Möglichkeiten zum Einfügen vieler weiterer Anmerkungen lassen.

Abbildung: Transkription einer Videohospitation in Form einer Partitur

Diese Transkripte können schließlich neben der Erforschung musikpädagogischer Fragestellungen auch in der Lehrer(fort)- bildung eingesetzt werden, da das Lesen von Transkripten den Wahrnehmungsprozess im Vergleich zur Videobetrachtung, die mehrere Sinne gleichzeitig anspricht, erheblich entschleunigt und LeserInnen dadurch auf jeweils einen Beobachtungsaspekt fokussiert. Die Erstellung von Transkriptionen erfordert viel Arbeit, erweist sich aber nicht zuletzt auch aufgrund der Anonymisierung des Datenmaterials für den Einsatz in der Lehrer(fort)bildung als sehr vorteilhaft.
Hier gibt es von Seiten der Forschung sicher noch einiges zu tun. Der Korpus muss sich vergrößern, Forschende müssen den Instrumentalunterricht unter weiteren mu­sikpädagogischen Fragestellungen betrachten sowie Wege finden, das Video- bzw. Transkriptionsmaterial mit Zustimmung der aufgezeichneten Personen der Lehrer-(fort)bildung zugänglich zu machen.

Videografie in Inklusionsfortbildungen

Im Zuge der Inklusion wächst das Angebot an Fortbildungen, die Inklusion im Instrumentalunterricht thematisieren. Die Angebote des Verbands deutscher Musikschulen, der Landesverbände sowie der Landesmusikakademien und der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung reichen von zweitägigen Fortbildungen bis hin zu mehrphasigen berufsbegleitenden Lehrgängen mit Qualifikationsnachweis und thematisieren unter anderem Grundlagen der Sonderpädagogik unter Berücksichtigung musikpsychologischer Grundannahmen, methodisch-didaktische Aspek­te der Unterrichtsplanung, (Um-)Arrangieren und Vereinfachung von Musikstücken für die elementare musikpraktische Arbeit sowie Improvisationsmodelle im Instrumentalunterricht. Es versteht sich von selbst, dass zweitägige Fortbildungen nicht alle Inhalte ausführlich thematisieren können und den Fokus auf meist nur einen Aspekt wie beispielsweise die Vorstellung praxiserprobter Modelle elementarer Musizierpraxis legen, die in den Fortbildungen selbst ausprobiert werden.
Hier stellt sich nun die Frage: Wie viel Fortbildungsstunden mit welchen Inhalten benötigen Lehrende eigentlich, um sicher inklusiv unterrichten zu können? Es entsteht dabei der Eindruck, als könne man gar in einer Art Handbuch für das Unterrichten von Menschen mit Behinderung die zehn Merkmale eines guten und gelingenden inklusiven Unterrichts benennen und dazu praktische Hinweise bzw. praktische Anleitungen geben. Wie in jedem Ins­t­rumentalunterricht ist aber auch in inklusiven Settings ein Unterricht gefragt, der sich immer wieder neu auf die Bedürfnisse der SchülerInnen einstellt. Neben allen genannten Themen brauchen Lehrende eben vor allem auch „Neugier, Interesse, Bereitschaft zum Ablegen von Vorurteilen, Mut, Experimentierlust, Freude daran, wie sich Menschen mit Behinderungen über Musik und im Musizieren freuen können“4 – und das braucht Zeit und Praxis! Fortbildungen können dazu nur einen Anreiz geben.
Mehrphasige Lehrgänge wie BLIMBAM in der Akademie Remscheid geben Raum für die Praxiserprobung, indem die Lehrgangs­phasen durch regelmäßige Praxisphasen mit Hospitationen und Videoaufzeichnungen von Lehrproben begleitet werden. Unterrichtsmethoden können dabei ausprobiert und Ängste abgebaut werden. Die Reflexion eigener Unterrichtsstunden und das Voneinander-Lernen stehen dann im Vordergrund und nutzen dabei die Stärken der Videohospitation.
Sowohl zweitägige Fortbildungen als auch mehrphasige berufsbegleitende Lehrgänge kosten aber Zeit und Geld – Zeit, die Lehrende teilweise zusätzlich zu ihrer Arbeitszeit investieren müssen, und Geld, das Lehrende häufig selbst aufbringen müssen. Bei Lehrenden mit Honorarverträgen bringt das natürlich ganz besondere Schwierigkeiten mit sich. Für einen flächendeckenden, gelingenden inklusiven Unterricht werden hier Lösungen zu finden sein, die den Besuch von mehrphasigen Fortbildungen mit intensiven videobegleiteten Hospitationsphasen attraktiver machen.

Videografiebasierte Reflexion der Unterrichtssprache

Wie der in der vorherigen Ausgabe von musikschule )) DIREKT erschienene Artikel zu sprachlichen Assoziationen in der Vermittlung elementarer instrumentaler Fertigkeiten zeigt, muss die Sprache des Inst­rumentalunterrichts unter anderem aufgrund der häufigen Verwendung assoziativer Elemente besondere Berücksichtigung bei der Reflexion von Unterricht finden und daher noch viel stärker in der Lehrer-(fort)bildung thematisiert werden. „Ein ‚Griff‘ ist eben etwas anderes als eine ‚Berührung‘, eine ‚Haltung‘ etwas anderes als die ‚Konzentration auf den Atemfluss‘, ‚Da kannst du richtig durchmaschieren‘ etwas anderes als ‚Spiel das mal wie ein Wiegenlied für ein ganz kleines Baby‘.“5 Die regelmäßige Reflexion der eigenen Unterrichtssprache ist eine Bedingung für einen gelingenden Unterricht und sensibilisiert Lehrende im Umgang mit dieser.
Neben der Analyse verbaler Äußerungen spielt aber auch die Betrachtung nonverbaler Äußerungen eine entscheidende Rolle, denn „instruktionale Formen zur Vermittlung motorischer Ausführungsfertigkeiten und musikalischen Ausdrucksgehalts im Instrumentalunterricht leben neben verbalsprachlichen Erläuterungen ähnlich von Mimiken und Gesten“.6 Videografierte Unterrichtsstunden und daraus erstellte Transkriptionen ermöglichen, eben diese Komplexität der Unterrichtssprache festzuhalten, analysierbar und zum Gegenstand der Reflexion zu machen.

Mut zur Videohospitation

Videohospitationen eignen sich aufgrund ihres vielfältigen Potenzials sowohl dazu, die Qualität des eigenen Unterrichts stetig zu verbessern, als auch Einblicke in den Instrumentalunterricht in inklusiven Settings zu bekommen. Nach Klärung der Regelungen zum Datenschutz – denn es werden auch immer SchülerInnen gefilmt – können ausgewählte Unterrichtsstunden aufgezeichnet und zur eigenen Reflexion genutzt sowie eventuell auch beispielhaft in der Lehrer(fort)bildung eingesetzt werden. In Studium und Fortbildungen sowie in Zusammenarbeit mit anderen Lehrenden können Videoausschnitte, sogenannte Videovignetten, als Ausgangspunkt für eine kollegiale Fallberatung dienen, in der gemeinsam Lösungsansätze für Schwierigkeiten und Herausforderungen entwickelt werden. Der Zusammenschluss mit einer Expertin oder einem Experten für inklusiven Instrumentalunterricht kann schließlich besonders gewinnbringend für die kollegiale Fallberatung sein, und zwar nicht nur dann, wenn es sich bei der aufgezeichneten Unterrichtsstunde um eine Stunde mit „diagnostiziertem“ inklusiven Setting handelt.
Es wäre wünschenswert, dass sich eine Hos­pitationskultur, die Stärken der videobasierten Unterrichtsreflexion und kollegialen Fallberatung nutzt und sich weiter für empirische musikpädagogische Forschung öffnet, in den Musikschulen etabliert. Bei vertrauensvollem und respektvollem Umgang ist die Kamera schnell vergessen.

1 Kerstin Heberle/Ulrike Kranefeld: „,Genau das ist jetzt das Problem bei uns.‘ Eine Fallstudie zum Rückmeldeverhalten von Lehrenden im Gruppeninstrumentalunterricht“, in: Thomas Greuel/ Katharina Schilling-Sandvoß (Hg.): Soziale Inklusion als künstlerische und musikpädagogische Herausforderung, Aachen 2012, S. 132.
2 Ulrike Kranefeld/Melanie Schönbrunn: „Videografie im Unterricht. Medialer Blick ins Klassenzimmer: über den Einsatz und Nutzen videobasierter Unterrichtsforschung für die Praxis“, in: Musik & Unterricht 101/2010, S. 59.
3 Kerstin Heberle/Ulrike Kranefeld: „,Bei ihm klingt das so komisch!‘ Perspektiven der Inter­pretativen Unterrichtsforschung auf den Umgang mit Differenz im JeKi-Gruppeninstrumentalunterricht“, in: Andreas Lehmann-Wermser (Hg.): Bei­träge empirischer Musikpädagogik Vol. 3, No. 1, elektronischer Artikel 2012, S. 2.
4 Ulrich Mahlert: Vorwort zum Themenheft „Inklusion“, in: üben & musizieren 1/16, S. 1.
5 Beate Mitzscherlich: Musikpsychologie im Instru­mentalunterricht – eine Einführung, Leipzig 2008, S. 88.
6 Heike Gebauer: „,Es sind Kamera-Themen’. Potenziale und Herausforderungen videobasierter Lehr-Lernforschung in der Musikpädagogik“, in: Andreas Lehmann-Wermser (Hg.): Beiträge empi­rischer Musikpädagogik Vol. 2, No. 2, elektronischer Artikel 2011, S. 23.