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Kinoshita, Yoshihisa Matthias

Wenn Peergroups die Macht übernehmen!

Betrachtungen eines Kinderchorleiters zu Entwicklungschancen und Turbulenzen in der Pubertät

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2018 , Seite 14

Kinderchor- und Ensembleleite­rInnen nehmen einen wichtigen ­Bildungsauftrag wahr. Doch die konkrete Umsetzung und Ausgestaltung ­dieses Bildungsauftrags ist besonders in der Pubertät mit der Energie
der Peergroups eine besondere Herausforderung.

Meine Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen in der frühen bis mittleren Adoleszenz, also im Alter zwischen elf und 16 Jahren, habe ich in den vergangenen 28 Jahren mit dem Wolfratshauser Kinderchor1 gemacht. Einem Kinderchor, in dem es keine musikalischen Voraussetzungen gibt, um mitsingen zu dürfen, und in dem Mädchen und Jungen in der Regel in einem Verhältnis von drei zu eins zusammen singen. Dieses Verhältnis verändert sich jedoch in der angesprochenen Altersgruppe, da die Jungen in den Stimmbruch kommen und nun die Möglichkeit haben, in die Mutantengruppe2 zu wechseln.
Die Jugendlichen befinden sich in dieser Entwicklungszeit in einer sensiblen Lebensphase, in der sie mit entscheidenden Entwicklungsaufgaben konfrontiert sind. Die offensichtlichen Veränderungen sind körperlicher Natur, aber auch die Stimmung, das Verhalten und das Wertesystem verändern sich und zeigen uns, was für eine drängende Entwicklungsenergie da zugange ist und nach Veränderung strebt. Sollte ich diese Entwicklungsphase mit einer Metapher beschreiben, wäre das für mich die Phase, in der die Raupe in einer Puppe zum Schmetterling reift. Auch unsere Kinder ziehen sich in dieser Zeit häufig zurück in eine Puppe. Doch sie brauchen die Familie, die Gleichaltrigen, die Öffentlichkeit und Gesellschaft, um ihre Entwicklungsaufgaben zu meistern. Die Entwicklung im Inneren und Äußeren will sich zeigen und bewähren. Sie will sich sogleich in den Kontext der Gesellschaft stellen, während sie Altes über Bord wirft und Neues kreiert – und manchmal ohne Rücksicht auf Verluste unvernünftig zu sein scheint.
Es ist eine Zeit der Identitätssuche und im positiven Verlauf eine Zeit der Weichenstellung zur Identitätsfindung, die das Heranwachsen der Jugendlichen zum Erwachsenen bedeutet.

Unmündigkeit durch verlängerte Adoleszenz

Zu den Entwicklungsaufgaben im Jugendalter gehören:
– einen Freundeskreis (bzw. eine Peergroup) auf­zubauen,
– die körperlichen Veränderungen und das eigene Aussehen zu akzeptieren,
– enge/intime Beziehungen aufzunehmen,
– sich vom Elternhaus zu lösen,
– sich in Richtung Ausbildung und Beruf zu orientieren,
– Vorstellungen bezüglich Partnerschaft und Familie zu entwickeln,
– Klarheit über sich selbst zu gewinnen,
– eine eigene Weltanschauung und Werte zu entwickeln,
– eine Zukunftsperspektive zu entwickeln.3
Eine der wesentlichen Entwicklungsaufgaben in der Pubertät ist die beginnende Ablösung vom Elternhaus. Gleichzeitig brauchen und suchen sich die Jugendlichen jedoch Erwachsene als Vorbilder und Orientierungspunkte. Die Pubertät ist somit durch diverse Ambivalenzen geprägt.

1 Der Wolfratshauser Kinderchor unter der Leitung von Yoshihisa Kinoshita ist ein Angebot der Musikschule Wolfratshausen. Siehe auch Yoshihisa Matthias Kino­shita: „Mehr als richtig singen. Der Kinderchor – ein Raum für die innere Entwicklung der Kinder?“, in: üben & musizieren 2/2014, S. 12.
2 An den Wolfratshauser Kinderchor schließt sich der ­Jugendkammerchor an und bildet so einen nahtlosen Übergang in der gesamten Ausbildungsstruktur der Chorabteilung. Die sogenannte Mutantenbetreuung für Stimmbrüchler vervollständigt das Gesamtkonzept.
3 Rolf Oerter/Eva Dreher: „Jugendalter“, in: Rolf Oerter/ Leo Montada (Hg.): Entwicklungspsychologie, Beltz, Weinheim 2002, S. 271.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2018.