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Altenmüller, Eckart

Die hörenden Hände

Zur Hirnphysiologie der Handmotorik beim Musizieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2019 , Seite 28

„Die kompliziertesten und doch am perfektesten koordinierten Willkür­bewegungen im ganzen Tierreich sind die Bewegungen der menschlichen Hand und der Finger. Und vielleicht werden bei keiner anderen mensch­lichen Aktivität die ungeheuren Leistungen des Gedächtnisses, der komplexen Integration und der muskulären Koordination eines professionellen Pianisten übertroffen.“1

Das Schwierigste, was der Mensch vollbringen kann, ist professionelles Musizieren auf hohem Niveau. Dieser das obenstehende Motto verkürzende Satz ist provokant formuliert und wird nicht sogleich jedem einleuchten. Die Leserinnen und Leser werden fragen, ob nicht die Fingerfertigkeit begnadeter Neurochirurgen oder die Geschicklichkeit großer Jongleure und Puppenspieler mindestens genauso hoch anzusiedeln sind. Und wie steht es mit der Rückhand der Tennisspielerin Serena Williams oder mit der feinen Handgelenks­bewegung des Golfers Tiger Woods beim „Putten“?
Zweifellos handelt es sich auch hier um außerordentliche Leistungen, die einige Aspekte mit den „Handwundern“ beim Musizieren gemeinsam haben. Höchste räumliche und zeitliche Präzision des Bewegungsablaufs benötigen auch diese Fertigkeiten, hohe Geschwindigkeit ist zumindest für Neurochirurgen, Jongleure und Puppenspieler sehr wichtig. Auch Kreativität in der Bewegung und starke emotionale Beteiligung wird man wohl keiner und keinem der oben genannten „Handwerkerinnen“ oder „Handwerker“ absprechen können.
Das Besondere des Musizierens liegt eben darin, dass die Handbewegungen Musik zum Klingen bringen! Hände von Musikerinnen und Musikern unterwerfen sich damit der unerbittlichen Diktatur des Gehörs und werden so von einem Sinnessystem kontrolliert, das über eine überlegene räumlich-zeitliche Auflösung verfügt. Dies bedeutet, dass sensomotorische Abläufe beim Musizieren immer nur Annäherungen an ein gewünschtes Ziel sein können. Das lebenslange Streben nach Vervollkommnung der schöpferischen Handbewegungen – und aller Spielbewegungen beim Musizieren – ist damit eine der besonderen Daseinsbedingungen aller professionell Musizierenden.
Im Folgenden möchte ich einige Beispiele für die hochentwickelte menschliche Handmotorik beim Musizieren darstellen. Danach werde ich auf die hirnphysiologischen Grund­lagen dieser Leistungen und auf die zu Grunde liegenden neuroplastischen Anpassungen des Zentralnervensystems eingehen.

Anschlag im Bereich von Millisekunden

Wenn ich die Behauptung aufstelle, dass professionelles Musizieren die anspruchsvollste menschliche feinmotorische Leistung sei, so muss zunächst geklärt werden, was das Besondere an der Handmotorik der Musikerinnen und Musiker ist. Drei wesentliche Charakteristika zeichnen sie nach meiner Auf­fassung aus:
1. die hohe räumliche und zeitliche Präzision unter der Kontrolle des Gehörs,
2. der sportliche Aspekt mit der nahezu unbegrenzten physischen Anforderung bezüglich Kraft, Schnelligkeit und koordinativer Komplexität der Bewegungsformen und
3. der emotionale Aspekt, da beim Musizieren Handbewegungen Gefühlszustände mitteilen.
Die ersten beiden Punkte sind dabei durchaus kulturspezifisch und gelten vornehmlich für die reproduktive Musik der westlichen Zivilisationen, der dritte Punkt umfasst das eigentliche Wesen der Musik und ist allen Musikkulturen gemeinsam.
Betrachten wir zunächst die Präzision und die Komplexität der musizierenden Handbewegungen am Beispiel des Klavierspiels: Der eingangs zitierte Homer B. Smith war mit dem klassischen Pianisten Simon Barere befreundet. Für die Interpretation von Robert Schumanns virtuoser Toccata in C-Dur op. 7 benötigte Barere vier Minuten und 20 Sekunden. In der Partitur zählte Smith 6266 Noten und errechnete damit eine Zahl von 24,1 Anschlägen pro Sekunde.
Er schätzte auf der Grundlage dieser Zahlen, dass eine Geschwindigkeit von 20 bis 30 Noten in der Sekunde etwa 400 bis 600 motorische Aktionen in den Muskelgruppen der Hände, Unterarme und Oberarme erforderten, die aber alle soweit automatisiert waren, dass der Pianist seine Aufmerksamkeit nicht auf einzelne mechanische Details zu richten hatte, sondern sie ganz der Gestaltung des Werks und der Interpretation widmen konnte.2
Bereits die bloße Quantität der für das Werk benötigten ca. 130000 Muskelimpulse ist verblüffend, wobei Smith die Pedalisierung nicht einmal berücksichtigte. Die Möglichkeit, viele Noten gleichzeitig zu spielen, stellt aber auch höchste Herausforderungen an die Qualität der Bewegungen. Als Beispiel sei an dieser Stelle das typische pianistische Prob­lem der Färbung von Akkorden angeführt. Wird ein Dreiton-Akkord angeschlagen, so können Pianistinnen und Pianisten die Klangfarbe dadurch beeinflussen, dass sie jeweils einen der drei Teiltöne lauter spielen als die anderen beiden. Ein heller Klang entsteht zum Beispiel dann, wenn der höchste der drei Töne am lautesten ist. Um den höchsten Ton lauter zu spielen, muss die Taste schneller niedergedrückt werden. Der Hammer wird mehr beschleunigt und die ­Saite beim Aufprall des Hammers stärker angeregt.

1 Homer W. Smith: From Fish to Philosopher, Boston 1953, S. 197 (Übersetzung durch den Autor).
2 ebd., S. 192-199.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2019.