Bossen, Anja

Kultur macht schlapp

Musik-Projekte als Spielball der Politik

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 1/2015 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Sind Sie Musikschulleiter und wollten einen Antrag im Rahmen des vom Bildungs­ministerium geförderten Projekts „Kultur macht stark“ stellen? Sind Sie Musikschullehrer und haben sich an der Ausarbeitung eines Projektantrags Ihrer Musikschule beteiligt? Dann haben Sie Pech gehabt, denn bereits im Juli 2014 wurde eine Antragsfrist vorübergehend ausgesetzt und anschließend unter deutlich schlechteren Konditionen für die Lehrkräfte ausgeschrie­ben. Weitere Fristen werden wohl komplett ausgesetzt bleiben, weil das Geld absehbar nicht reicht. Kultur macht vorzeitig schlapp statt stark.

Am Beispiel des Projekts „MusikLeben!“ des VdM, aber auch anhand anderer Projekte wie z. B. „JeKi“ zeigt sich, wie heikel die immer weiter um sich greifende „Projektitis“ ist – allerdings weniger für diejenigen, die sich der „Projektitis“ um politischer Wirkungen willen bedienen, als vielmehr für diejenigen, die ihre Kraft, Zeit und Ideen in Projektanträge und die Umsetzung der Projekte investieren.

Fremde Ideen nutzen, statt eigene zu entwickeln

Gab es bis vor wenigen Jahren, als statt einer punktuellen Projektflut eine kontinuierliche musikalische Bildung noch vorgesehen war, Vorgaben durch die Bildungspolitik selbst, weil Politiker bestimmte Bildungsabsichten verfolgten und sich eigene Gedanken machen mussten, wie diese am besten zu erreichen seien, so werden solche Vorgaben nunmehr durch die Ausnutzung der Ideen anderer Menschen ersetzt. Man bewirbt sich heutzutage als musikpädagogische Institution bei Stellen, die von der Politik eigens dafür eingerichtet wurden, oder gern auch bei Stiftungen bzw. anderen staatlichen oder privaten Institutionen. Damit müssen Bildungspolitiker bzw. die von ihnen oder von privaten Organisationen beauftragten Experten nur noch die Auswahl unter den „besten“ Ideen treffen, statt eigene Ideen zu entwickeln. Das ist natürlich effizient, weil man andere Menschen für sich arbeiten lässt, die im Fall der Ablehnung eines Projekts allerdings viel Zeit, Energie und teils auch Geld (soweit sie denn überhaupt bezahlt werden) vergeudet haben. Sie sind die Verlierer eines solchen Wettbewerbssystems. Die Projektinitiatoren hingegen werden für ihr gesellschaftliches Engagement öffentlich gefeiert, die „besten“ Ideen mit entsprechendem medialen Getöse ausgezeichnet.
Doch abgesehen von der Ausnutzung und Vergeudung der Arbeitskraft der jeweiligen „Projektverlierer“ stellt sich die Frage, ob es bei Projekten tatsächlich um die „besten“ Ideen geht. Zunächst werden in der Regel Förderrichtlinien erlassen, die einen Orientierungsrahmen für die Antragsteller bieten. Dann entscheidet eine Bildungsverwaltung, Stiftung, Jury oder eine andere Institution über die Förderungswürdigkeit. Die Entscheidungskriterien sind oft nicht transparent, und so schnell, wie teilweise Projekte aus dem Boden gestampft und sogar flächendeckend implementiert werden, ohne dass es überhaupt eine ausgereifte Konzeption gibt, geht es dabei wohl weniger um die besten als vielmehr um die medial wirksamsten Projekte, die vor allem die politische Botschaft „Wir tun was“ transportieren. Da werden Internetseiten erstellt, Hochglanzbroschüren gedruckt, Tagungen und Workshops ausgerichtet, die auf unglaublich viel „Wir tun was“ hindeuten. Die Tagespresse ist beeindruckt, und was könnte auch medial wirksamer sein als ein Ministerpräsident oder ein Stiftungsratsvorsitzender in der Vattenfall- oder sonst einer Arena, um­geben von lachenden Kindern mit Instrumenten?

„Nachhaltig“ und „innovativ“

Für die Bewilligung eines Projektantrags bedarf es aber nicht nur der besten Ideen, sondern auch der passenden Stichworte. Zwei davon sind „nachhaltig“ und „innovativ“. Kein Wunder, dass alle Projekte behaupten, nachhaltig zu sein, denn das ist ein dringendes Erfordernis. Meistens kann der spätere Nachweis dafür allerdings nicht erbracht werden, da eine entsprechende Begleitforschung nicht finanziert wird. Das Erkenntnisinteresse über die Erreichung der gesteckten Projektziele – sofern überhaupt welche formuliert sind – ist allgemein eher gering. Deshalb ist auch über die tatsächliche „Nachhaltigkeit“ eines Projekts in der Regel nichts bekannt. Doch kann eine zeitlich begrenzte Maßnahme überhaupt geeignet sein, nachhaltige Effekte zu bewirken? Steht nicht vielmehr der Projektgedanke grundsätzlich in krassem Gegensatz zum Nachhaltigkeitsgedanken?
Nachhaltig könnten Projekte dann sein, wenn sie Prozesse anregen, die langfristige Wirkungen in der jeweiligen Zielerreichung zeigen. Wenn also Antragsteller behaupten, ihr Projekt sei nachhaltig, müsste zunächst geklärt werden, was der Begriff „Nachhaltigkeit“ auf das Projekt bezogen überhaupt bedeuten soll, und vor allem, wie man die so definierte „Nachhaltigkeit“ denn überprüfen könnte. Natürlich müsste sie dann auch tatsächlich überprüft werden, was jedoch meist aus finanziellen Gründen nicht oder in einem so geringen Umfang erfolgt, dass sich daraus schwerlich aussagekräftige und verallgemeinerbare Schlüsse ziehen lassen.
Zur Nachhaltigkeit von Projekten äußerte sich auf der Nürnberger Tagung „Zwischenbilanz Kulturelle Bildung“ im Juli 2014 der Kulturwissenschaftler Stephan Opitz dahingehend, dass er eine Perspektive für Nachhaltigkeit von kulturellen Projekten mit einem Generationenvertrag sehe. Der Begriff aus der Forstwirtschaft besage, dass es drei Generationen brauche, bis ein anständiger Baum gewachsen sei. In Deutschland hingegen verhindere das kameralistische System mit dem Königsrecht der Parlamente, dass Nachhaltigkeit überhaupt eine Chance habe. Von Nachhaltigkeit seien wir Lichtjahre entfernt, weil dies in unserem System nicht vorgesehen sei.1
„Innovativ“ soll jedes Projekt dazu auch noch sein; bei „Kultur macht stark“ werden sogar nur noch besonders innovative Projekte (wodurch auch immer sie sich von nur innovativen unterscheiden) aus den Restmitteln gefördert – doch warum eigentlich? Natürlich ist grundsätzlich nichts gegen neue Ideen in einer sich verändernden Gesellschaft und vor dem Hintergrund musikpädagogischer Forschung einzuwenden. Doch gibt es nicht bereits auch zig bewährte Formate musikalischer Bildung? Und wenn schon „innovativ“: Wäre es nicht eine sinnvolle Maßnahme, positiv evaluierte Modellprojekte dann auch zu verstetigen (was aufgrund mangelnder Finanzierungsmöglichkeiten nur äußerst selten der Fall ist), statt hektisch ein Modellprojekt nach dem anderen aufzulegen, um sie anschließend in der Versenkung verschwinden zu lassen? Sollte man Modellprojekten nicht Zeit geben, sich zu entwickeln und, wo vorhanden, die Ergebnisse einer Evaluation umzusetzen, statt hektisch alle drei bis vier Jahre an einem laufenden Projekt teils gravierende Veränderungen vorzunehmen, wie es gerade bei „JeKi“ in Nordrhein-Westfalen passiert ist? Modellprojekte haben ursprünglich den Zweck, längerfristige praxistaugliche Modelle zu entwickeln, die dem Stand aktueller Forschung entsprechen.

Spielball der Willkür

Gerade das Beispiel „Jeki“ zeigt, wie staatlich geförderte Projekte mehr und mehr zum Spielball der Politik werden. Kaum standen nach mehreren Jahren nun endlich Konzeption und Curriculum, hatten die Lehrkräfte sich eingearbeitet, war das Projekt an Schulen etabliert und waren unter Mitarbeit der Lehrkräfte Unterrichtsmaterialien aufgelegt worden, schon wurde mit einem Wechsel der Landes­regierung alles geändert, mit enormen negativen Folgen für alle Beteiligten. Die zuständige Ministerin kümmerte es nicht. Stattdessen wurde der JeKi-Nachfolger JeKits als landesweite Fortführung des bisher auf das Ruhrgebiet beschränkten JeKi-Programms zur weiteren Erhöhung der Chancengerechtigkeit propagiert.
An dieser Stelle zeigt sich, dass nicht nur die Finanzierung, sondern auch die Projektinhalte der jeweiligen Vorstellung von musikalischer Bildung bzw. Chancengerechtigkeit unterworfen werden – bei JeKi nun also weg vom „elitären“ Instrumentalspiel zur musischen Erziehung in der Gemeinschaft. Auch die zeitlichen Vorstellungen darüber, nach wie langer Zeit Chancengerechtigkeit erreicht ist (zwei Jahre? vier Jahre?), schwanken je nach Parteizugehörigkeit. Das ist eine befremdliche Auslegung des in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Rechts auf kulturelle Teilhabe.2
Im Fall von JeKi macht es sich die Landesregierung NRW noch besonders leicht, indem sie die bei JeKits entstehenden Kosten für die bisherigen Sozialermäßigungen nun überwiegend auf die Kommunen abwälzt. Musikpädagogische Aspekte interessierten beim Nachfolge-Projekt nicht, die Bedenken beteiligter Fachleute wurden auf politischer Ebene vollständig ignoriert. Hauptsache mit derselben Projektsumme werden nun noch mehr Kinder in ganz NRW erreicht.
Wovon profitieren diese Kinder? – Nicht von Interesse. Was wird aus den Lehrkräften? – Gibt doch genug. Die Arbeitskraft, die bereits von Hunderten von Lehrkräften, Musikschulleitern, ForscherInnen und anderen Beteiligten in JeKi investiert wurde? – Egal! All dies zählt auf politischer Ebene nichts angesichts einer Umstrukturierung, die sich durch nichts als politischen Größenwahn begründen lässt. Musikalische Bildung ist demnach, als was die Regierung sie definiert.
Was bedeuten Projekte für die Lehrkräfte?
Für viele Musikschullehrkräfte schien die beginnende „Projektitis“ zunächst eine Aussicht auf eine Aufbesserung ihres kärglichen Einkommens zu sein, ein Strohhalm vor allem auch für alle diejenigen, die an Musikschulen nicht mehr genug Stunden für regulären Unterricht erhalten. Doch zieht man nach den bisherigen Jahren der „Projektitis“ eine Bilanz, ist diese äußerst ernüchternd: Die Lehrkräfte müssen sich auf neue musikpädagogische Konzepte einlassen, die meist zu Beginn eines Projekts nicht klar ausformuliert sind, für die sie nicht ausgebildet sind und für die es zu Beginn auch oft keine Fortbildungen gibt. Nachdem das Projekt im Höchstfall drei bis vier Jahre gelaufen ist, werden die inzwischen eventuell dann doch absolvierten Fortbildungen und die Einarbeitung wertlos, da das Projekt eingestellt oder stark verändert wird. Und: Nur die allerwenigsten Projekte bieten Festanstellungen; und selbst wenn, dann eben nur befristet und in Teilzeit. Doch wer zieht für eine auf drei Jahre befristete Teilzeitstelle ständig um, zumal wenn er vielleicht noch einen Partner und Familie hat?
So können Projekte immer nur ein Zubrot für Lehrkräfte sein. Sie können sich nicht mit ganzer Kraft engagieren, weil sie bereits während der Projektlaufzeit Ausschau nach einer neuen Einkommensquelle halten müssen. Denn die Lehrkräfte benötigen wie alle anderen Arbeitnehmer ein regelmäßiges, zuverlässiges Einkommen. Das aber können sie am ehesten aus einer kontinuierlichen Unterrichtstätigkeit beziehen. Welcher Lehrer wird also eine kontinuierliche Unterrichtstätigkeit zugunsten einer absehbar unsicheren in einem Projekt aufgeben? Projekte können keine Kontinuität bieten, mithin auch keinen „sicheren“ Arbeitsplatz (es sei denn für in Vollzeit unbefristet angestellte Lehrkräfte, die innerhalb ihres Stundendeputats auch Projektunterricht übernehmen), da sie naturgemäß zeitlich begrenzte Maßnahmen sind.

Projektitis-Bilanz

Für die Politik ist die „Projektitis“ eine bequeme Lösung, die zudem sehr gut zu den aktuellen gesellschaftlichen Paradigmen der Schnelllebigkeit, der ständigen Suche nach dem Neuen, der Umgehung von Verbindlichkeit bzw. Selbstverpflichtung und auch zum Selbstausbeutungs- und Selbstoptimierungsparadigma unserer Leistungsgesellschaft passt, in das sich viele Musikschullehrkräfte und auch Musikschulleiter selbstverständlich einfügen. Projekte haben außerdem den Vorteil, dass sie je nach Kassenlage stattfinden oder eben nicht (mehr). So entziehen sich die Verantwortlichen langfristigen Zusagen und Verpflichtungen. Trotzdem kann jedes neue Projekt von einem Minister medienwirksam als wichtige politische Aktion inszeniert werden. Dann aber sollte auch niemand klagen, wenn Kinder und Jugend­liche, die fast nur noch mit Projekten als Lernform aufwachsen, auch keine verbindlichen Zusagen mehr machen wollen, regelmäßig und über einen längeren Zeitraum an Chor-, Orchester- oder Tanzproben teilzunehmen.
Für die Mehrheit der Lehrkräfte bedeuten Projekte eine Zementierung prekärer Arbeit, denn in den meisten Projekten arbeitet der größte Teil der LehrerInnen auf Honorarbasis oder hat, sofern fest angestellt, lediglich eine befristete Teilzeitstelle. Das trifft nicht nur im musikpädagogischen Bereich, sondern in der gesamten Kulturarbeit zu. Hoffnungen der Lehrkräfte auf Festanstellung, Entfristung oder Verlängerung von Projekten, Hoffnungen, die oft auch eine erhebliche Motivationsquelle für die Lehrkräfte sind, werden allzu oft enttäuscht.
Für die Teilnehmer bedeuten Projekte eine kurzzeitige Chance, sich auszuprobieren und etwas Neues kennen zu lernen, das sie nach dem Ausscheiden aus dem Projekt weiter für sich nutzen können, allerdings nur, sofern sie dies auch selbst finanzieren können. Eine Chance übrigens, die sie auch durch kontinuierlich geplanten Unterricht hätten. Denn alle musikpädagogischen Institutionen haben Kündigungsfristen. Projekte ersetzen Kontinuität in mehrfacher Hinsicht: Im Hinblick auf Bildungsprozesse und dauerhafte Chancengerechtigkeit bei den Projektteilnehmern, im Hinblick auf ein kontinuierliches Einkommen und Lebensplanung bei den Lehrkräften, im Hinblick auf Planbarkeit und Steuerung bei den Musikschulleitungen. Denn auch die Musikschulleiter können sich nicht auf das verlassen, was die Politik mit großem Medien-Getöse ankündigt, egal, wie engagiert sie sind. So werden demnächst wohl auch viele Lehrkräfte, Musikschulleiter und am Ende so manches Projekt selbst schlapp machen, so wie z. B. vor wenigen Jahren (ebenfalls nach einem Regierungswechsel) „Singen – Bewegen – Sprechen“ in Baden-Württemberg.
Und schließlich wird der musikalischen Bildung das passieren, was dem Kaiser im Märchen Des Kaisers neue Kleider widerfährt: Sie wird gar nichts mehr anhaben. Aber solange Broschüren glänzen und die Vattenfall-Arena voll mit Kindern ist, interessiert das wohl niemanden wirklich.

1 Tagungsbericht unter www.rat-kulturelle-bildung.de/index.php?id=64
2 UN-Kinderrechtskonvention, Art. 31, Abs. 2: „Die Vertragsstaaten achten und fördern das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung sowie für aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung.“ – www.national-coalition.de/pdf/UN-Kinderrechtskonvention.pdf

* Norbert Sievers, Hauptgeschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft