Simon, Jürgen

Die Chlorhühnchen der Musikpädagogik

Das geheime TISA-Abkommen ist eine Gefahr für Musiklehrkräfte, für Musikschulen – für uns alle!

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 06

Das geplante TTIP-Abkommen, das den internationalen Handel liberalisieren soll, ist inzwischen allgemein bekannt und bei der Bevölkerung so unbeliebt, dass die Politik zunehmend Schwierigkeiten bei der Umsetzung bekommt. Aber Politiker sind lernfähig!

Was TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) ist, wurde in letzter Zeit regelmäßig in den Medien erläutert. Und obwohl die verhandelten Inhalte weitestgehend geheim gehalten werden, gibt es inzwischen genügend Informationen, um die Auswirkungen dieses Handelsabkommens wenigstens einschätzen zu können. Insbesondere werden in weiten Teilen der kritischen Öffentlichkeit eine weit­gehende Freigabe von gentechnisch veränderten Lebensmitteln (womöglich ohne Kennzeichnung), in Chlor getauchte Hüh­ner und weitere erhebliche Einschränkungen im Verbraucherschutz erwartet. Aber auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten werden befürchtet.
Je mehr Informationen über TTIP bekannt werden, desto größer und lauter wird der Widerstand in der Bevölkerung. Politik und Wirtschaft haben inzwischen begriffen, dass eine immer weitergehende Liberalisierung bei der Bevölkerung auf erhebliche Ablehnung stößt, was die Umsetzung dieses Abkommens deutlich erschwert. Daraus haben die Beteiligten aus Wirtschaft und Politik eine Lehre gezogen: Ein weiteres Abkommen zur Liberalisierung von Dienstleistungen (TISA) wird noch geheimer und mit großer Eile verhandelt, in der Hoffnung, dass die Bevölkerung es – wenn überhaupt – erst dann bemerkt, wenn es zu spät ist.

Was ist TISA?

TISA (Trade in Services Agreement) soll den internationalen Handel mit Dienstleistungen liberalisieren. Dabei wird der Begriff „Dienstleistung“ relativ weit gefasst. So wird die Versorgung mit Wasser ebenso als Dienstleistung eingestuft wie Gesundheitsversorgung, Bildung, die Rente oder Banken und Versicherungen. Alle diese Dienstleistungen sollen möglichst wenig durch staatliche Eingriffe reguliert werden, sondern – soweit damit irgendwie Gewinne zu erzielen sind – durch private, gewinnorientierte Unternehmen erbracht werden können.
Besonders problematisch sind dabei die sogenannten Stillstands- bzw. Sperrklinkenklauseln, die besagen, dass eine einmal erreichte Privatisierung oder Deregulierung niemals mehr zurückgenommen werden kann. Konkret bedeutet dies, dass eine Entscheidung zur Rekommunalisierung der Wasserversorgung, wie sie z. B. in Berlin durchgesetzt werden konnte, nicht mehr zulässig wäre. Aber auch die spätere Regulierung gefährlicher Spekulationsgeschäfte wäre nicht mehr möglich, wenn sie erst einmal genehmigt wurden. Selbst eine Regelung, wie die kürzlich von der EU beschlossene Begrenzung der Roaminggebüh­ren würde künftig womöglich gegen TISA verstoßen.

Super-Mega-Hyper-Geheim

Was TISA jedoch wirklich alles beinhaltet, ist nicht festzustellen, denn weder die Parlamentarier des deutschen Bundestags noch EU-Parlamentarier haben Zugang zu den Verhandlungen. Selbstverständlich sind Verbraucherschutzorganisationen und Gewerkschaften ebenfalls von allen Informationen ausgeschlossen. Nicht einmal die Welthandelsorganisation (WTO) wird über die Verhandlungen informiert. Einzig einige Regierungsvertreter der 50 beteiligten Staaten und selbstverständlich die Lobbyisten aus der Wirtschaft sind an diesen Verhandlungen beteiligt.
Das Ganze ist so geheim, dass die Verträge sogar nach dem Abschluss (oder dem Scheitern) der Verhandlungen noch mindestens fünf weitere Jahre nicht veröffentlicht werden dürfen. Hier wird nicht einmal mehr versucht, wenigstens einen Anschein von Demokratie aufrechtzuerhalten. Ob ein solches Vorgehen mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht werden kann, bezweifle ich persönlich sehr. Immerhin wurde jetzt ein erstes ­Dokument auf Wikileaks veröffentlicht (www.wikileaks.org/ tisa-financial). Neben dem eigentlichen TISA-Dokument, das sich jedoch ausschließlich mit Finanzdienstleistungen befasst, findet sich dort eine sehr profunde und lesenswerte Ana­lyse von Jane Kelsey von der Universität Auckland.

Und was geht mich das an?

TISA wird womöglich mehr Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben als jeder andere Handelsvertrag einschließlich TTIP. Da nach den bisher vorliegenden Informationen in weiten Bereichen mit Negativlisten gearbeitet wird, sind automatisch alle Dienstleistungen betroffen, die nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind. Eine spätere Ergänzung der Listen ist vermutlich ebenfalls nicht vorgesehen.
Angesprochen wurde bereits die Privatisierung der Wasserversorgung, die – wie sich am Beispiel Berlin gezeigt hat – nur den Unternehmen genützt hat. Für die Bürger wurde das Wasser nur teurer. Da auch das Vermieten von Wohnungen eine Dienstleistung ist, ist auch hier mit Verschlechterungen zu rechnen. Zwar ist der Mietwohnungsmarkt ohnehin bereits überwiegend in privaten Händen, doch gibt es in Deutschland relativ viele Regelungen zum Schutz von Mietern. Eine Regelung wie die für 2015 geplante Mietpreisbremse dürfte unter dem Einfluss von TISA kaum mehr umzusetzen sein. Die dann folgende Entwicklung der Mieten kann sich jeder leicht selbst ausmalen.
Auch bei anderen bereits privatisierten Dienstleistungen wie z. B. der Stromversorgung besteht die Gefahr, dass existierende Regulierungen zugunsten der Verbraucher nach und nach abgebaut und neue Schutzvorschriften durch TISA verhindert werden. Nicht weniger problematisch dürften die Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung sein. Ob eine Gesundheitsreform, wie sie in Amerika durch „ObamaCare“ eingeführt wurde, nach TISA noch möglich wäre, ist fraglich. Auch im Gesundheitsbereich besteht somit die Gefahr, dass die Kosten für die Nutzer steigen, während sich der Umfang und die Qualität der Versorgung reduzieren.
Bereits die heutige Teilung der Krankenversicherung in privat und gesetzlich Versicherte sorgt für ein Ungleichgewicht. Dies könnte unter TISA noch verschärft werden, indem z. B. die Möglichkeit, sich privat zu versichern, deutlich ausgeweitet wird, bis in der gesetzlichen Versicherung nur noch die zurückbleiben, die für die privaten Versicherungsgesellschaften nicht attraktiv sind.

Und als Musikschullehrer?

Unter die Gruppe derer, die für private Krankenversicherungen nicht attraktiv sind, werden vermutlich auch Musiker und Musikschullehrer fallen. Erstens verdienen viele in dieser Gruppe zu wenig, und zweitens gibt es gerade bei Musikern viele Krankheiten, die an sich nicht gravierend sind, das Ausüben der Arbeit jedoch unmöglich machen und deshalb behandelt werden müssen. Und gewinnorientierte Versicherungen wollen natürlich möglichst wenige Behandlungskosten übernehmen.
Etwas Vergleichbares könnte sogar im Bereich der Rentenversicherung geschehen. Bereits bei der Einführung der Riesterrente zeigte sich, dass häufig die Versicherer am meisten profitieren und die Renditen bestenfalls bescheiden sind. Eine weitere Privatisierung der Rente brächte vermutlich auch wieder eine Teilung in Wohl­habende, die sich eine private Altersvorsorge leisten können, und Arme, die auf ein immer weiter marginalisiertes staatliches Restsystem angewiesen sind.
Selbst die für die vielen freien Lehrkräfte essenzielle Künstlersozialkasse (KSK) könn­te von TISA betroffen sein. Diese Einrichtung ist bei vielen Unternehmern eher unbeliebt, da sie eine Abgabe an die KSK abführen müssen, wenn sie selbstständige Künstler engagieren. Da häufig auch freischaffende Grafiker und zum Teil sogar Webdesigner in der KSK versichert sind, müssen auch für deren Dienste Abgaben entrichtet werden, selbst wenn der jeweilige Künstler gar nicht in der KSK versichert ist. Dabei könnte die KSK von zwei Seiten in Bedrängnis geraten: Zum einen ist sie natürlich ein Eingriff in die freie Gestaltung der künstlerischen Dienstleistungen, da die beiden Geschäftspartner eben nicht die Freiheit haben zu entscheiden, dass sie diese Versicherung nicht wollen. Solche regulatorischen Eingriffe sollen durch TISA ja gerade abgeschafft werden. Zum anderen ist es sogar vorstellbar, dass die Unternehmen, die bisher an die KSK zahlen müssen, eigene alternative Versicherungen entwickeln, deren einziges Ziel es ist, möglichst niedrige Beiträge anzubieten. Langfristig würde dies sicherlich zu Problemen für die KSK und ihre Versicherten führen.
Obwohl dieses Szenario auf den ersten Blick eher abwegig erscheint, hat es bereits in der Vergangenheit Versuche gegeben, Institutionen nur mit dem Zweck der Geldersparnis für Unternehmen zu gründen oder zu finanzieren. So wurde die inzwischen nicht mehr als Gewerkschaft zugelassene „Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste“ mutmaßlich durch die Arbeitgeber der Post-Konkurrenz (die das immer bestritten haben) ins Leben gerufen und finanziert, um eine willfährige Ge­werkschaft für Lohndumping zu haben.

Und für die Musikschulen?

Die womöglich größte Gefahr für die Musikschulen, aber ebenso für die Musikhochschulen und die gesamte Kultur in Deutschland dürfte in den Regelungen aus dem bereits erwähnten, auf Wikileaks veröffentlichten Dokument über Finanzdienstleistungen liegen. Im Kern geht es um eine möglichst weitgehende Deregulierung aller Finanzmarktgeschäfte. Da gerade die besonders gefährlichen Spekula­tionsinstrumente, die zur jüngsten Wirtschaftskrise geführt haben, nicht durch Regulierung „behindert“ werden sollen, ist die nächste Finanzkrise beinahe schon vorprogrammiert. Was passiert, wenn dann der Staat wieder zur Rettung der Spekulanten einspringen muss, ist aktuell in Griechenland zu sehen. Öffentliche Mittel für freiwillige Leistungen wird es dann wohl überhaupt nicht mehr geben.
Ist dies also die große Stunde der privaten Musikschulen? Vermutlich wird es auch hier viele Verlierer und nur wenige Gewinner geben. Die Hoffnung, dass eine Deregulierung im Musikschulbereich dazu führen wird, dass die öffentlichen Mittel künftig auch auf die privaten Musikschulen verteilt werden, dürfte am Vergaberecht scheitern. Wie bei anderen Dienstleistungen, die von der öffentlichen Hand vergeben werden, gilt auch hier, dass derjenige, der das beste Angebot macht, den Auftrag bekommt – alle anderen gehen leer aus. Und das beste Angebot bedeutet in der Regel: das billigste Angebot.
Dabei ist der Gestaltungsspielraum bei den Ausschreibungen durch die Auftrag­geber – in der Regel sind das die Kommunen – oft recht gering. Daher besteht auch hier die Gefahr, dass sich längerfristig einige wenige große Musikschulkonzerne das Geschäft teilen werden. Kleine private, lokale Musikschulanbieter, die mit viel Engagement und künstlerisch-pädagogischen Konzepten versuchen, möglichst guten Unterricht anzubieten, werden es in diesem Preiskampf noch schwerer als bisher haben.

Alles nur Paranoia?

Die Befürworter aus Politik und Wirtschaft werden nicht müde zu erklären, dass derartige Abkommen gut für die Wirtschaft und damit auch gut für die Bevölkerung sind und sicherlich auch viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Während die angeblichen positiven Effekte für TISA bisher nebulös bleiben, gibt es für TTIP relativ konkrete Angaben. Allerdings fallen die in Aussicht gestellten positiven Effekte bei genauer Betrachtung eher bescheiden aus, selbst wenn man die optimistischsten Annahmen der Befürworter zugrunde legt. Das für TTIP zusätzlich prognostizierte Wirtschaftswachstum von 0,5% für Europa ist für zehn Jahre angegeben, beträgt also nur 0,05% pro Jahr. Wenn man bedenkt, dass sich die Prognosen für das Wirtschaftswachstum in Deutschland für 2015 je nach Institut innerhalb einer Spanne von 1,5% und 2,4% bewegen, scheint es eher wie Wahrsagerei, ein zusätzliches Wachstum von 0,5% im Verlauf von zehn Jahren tatsächlich vorhersagen zu können.
Nicht besser sieht es bei den versprochenen „hunderttausenden“ Arbeitsplätzen für die gesamte EU aus. Auch diese Zahl wird zur Makulatur, wenn man bedenkt, dass in den zurückliegenden zwölf Monaten die Arbeitslosenzahl allein in Deutschland um mehr als dreihunderttausend schwankte.
Außer dem zusätzlichen Wachstum und den neuen Arbeitsplätzen in einer Größenordnung, die so gering ist, dass der Nachweis schwerfallen dürfte, sind aber offenbar keine weiteren positiven Effekte zu erwarten. Keiner der Befürworter hat jemals angedeutet, es könnte Verbesserungen im Arbeitnehmer- oder Verbraucherschutz, beim Umweltschutz oder der sozialen Gerechtigkeit geben. Im Gegenteil befürchten die Kritiker in all diesen Bereichen negative Auswirkungen durch diese Abkommen. Hier muss sich jeder selbst die Frage stellen, ob die möglichen positiven Effekte groß und wichtig genug sind, um die möglichen Risiken in Kauf zu nehmen.