Bossen, Anja

Jungenmusik – Mädchenmusik

Geschlechtsspezifische Aspekte der Musikschularbeit

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 11

Berlin-Wedding, eine MGA-Stunde mit einer ersten Klasse an einer „Brennpunkt-Grundschule“. Zwölf Kinder – neun Mädchen und drei Jungen – stehen im Kreis und sollen gemeinsam ein Frühlingslied singen, nachdem die Lehrerin die darin vorkommenden Begriffe (z. B. „Osterglocke“) mittels Bildern erläutert hat. Die Mädchen singen begeistert, auch einer der drei Jungen. Doch Onur und Max schauen hierhin und dorthin, winden sich und haben ganz offensichtlich keine Lust zu singen. Auch mehrmalige Ermahnungen der Lehrerin und deren Appell an den Zusammenhalt der Gruppe beim Singen („Es klingt doch viel schöner, wenn wir alle gemeinsam singen!“) ändern daran nichts. Die beiden Jungen entfernen sich aus der Gruppe und fangen an, durch den Raum zu rennen. Die Lehrerin versucht, die beiden zum Zurückkommen zu bewegen, und befasst sich intensiv mit ihnen, während der Rest der Gruppe unbeschäftigt bleibt. Die Situation läuft aus dem Ruder und mit dem gemeinsamen Singen ist es nun ganz und gar vorbei. Schließlich bringt es Onur auf den Punkt: „Ich will aber nicht singen.“ „Ich auch nicht!“, schreit Max.

Jungen in der Musikpädagogik

Damit stehen Onur und Max nicht allein. Zweifellos sind musikalische Erfahrungen von Erstklässlern sehr heterogen. Doch Jungen wollen heutzutage oft schon in der ersten Klasse nicht singen, Mädchen hingegen tun dies gern. Und wenn Jungen überhaupt singen, dann am liebsten wie ein Pop-Star, oder sie brüllen sich gegenseitig bzw. die Mädchen nieder, wie Monika Oebelsberger feststellt.1 Jungen für einen Chor zu gewinnen und sie zum dauerhaften Bleiben zu bewegen, erweist sich ebenfalls zunehmend als schwierig.
Dafür bewegen Jungen sich lieber als Mäd­chen zu Musik, allerdings gibt es auch hier Unterschiede: Jungen bevorzugen kraftvolle, eckige, schnelle Bewegungen und Stile wie Breakdance oder Hip Hop, Mädchen weiche und langsamere; sie haben auch eher Spaß am Tanzen historischer Tänze oder Ballett. Woran liegt das?
Dass Jungen und Mädchen unterschiedlich erzogen und sozialisiert werden, ist lange bekannt. So überrascht es auch nicht, dass Jungen in musikalischer Hinsicht eine andere Sozialisation durchlaufen als Mädchen, sodass sie oft bereits im Kita-Alter geschlechtsspezifisch geprägt sind. Aber Jungen scheinen sich dabei zunehmend als „Verlierer“ der musikalischen Sozialisation zu erweisen, denn ihnen fehlen (noch) mehr als Mädchen Grunderfahrungen mit der Stimme und dem Körper.
Die österreichische Sozialwissenschaft­lerin Edit Schlaffer behauptet, dass die männliche Jugend kulturell zunehmend aussteigt: „Musik, Kunst, Ästhetik und sogar die alltäglicheren Kulturleistungen wie Lesen und Schreiben gelten den Jungen zunehmend als absolut unmännlich […]. Früher machte das weniger aus. Irgendwann wuchsen die Männer dann trotzdem in diese Kultur hinein […]. Heute ist das anders: […] Ästhetik ist für Jungen zum Tabu geworden!“2 Kein Wunder, denn wenn die eigenen Väter von ihren Söhnen niemals selbst musizierend wahrgenommen werden, vielleicht sogar noch Singen von den Vätern als „unmännlich“ abqualifiziert wird, prägt dieses Vorbild natürlich die Rollenvorstellungen der Jungen und diese wiederum später ihr eigenes Verhalten als Väter.
Jungen verfügen auch über ein schlechteres Selbstkonzept in Bezug auf Singen als Mädchen, das heißt sie denken von sich selbst eher als Mädchen, dass sie es nicht so gut können. So werden die negativen Sing-Erfahrungen von Vater-Generation zu Vater-Generation weitergegeben. Verantwortlich für die Ausbildung von Klischees sind sicher auch die medial vermittelten Vorbilder, die allzu oft muskulöse Männer mit E-Gitarren oder am Schlagzeug und Frauen als spärlich bekleidete Sängerinnen zeigen – und Männer, wenn schon als Sänger, dann als Pop-Star.

Mädcheninteressen – ­Jungeninteressen

Was aber kann man konkret tun, wenn man als Lehrkraft in eine solche Situation wie eingangs geschildert gerät? Wie kann man mit der Verschiedenheit von Jungen und Mädchen im Musikunterricht umgehen? Zunächst ist es wichtig, Themen und Umgangsweisen mit Musik zu kennen, die grundsätzlich eher Mädchen bzw. eher Jungen ansprechen. Hier kann man sich z. B. an dem orientieren, was bereits aus der Leseforschung bekannt ist. Denn Jungen (zwischen 6 und 18 Jahren) bevorzugen auch beim Lesen andere Themen als Mädchen: Sie lesen eher Sachtexte, vor allem zu naturwissenschaftlichen oder technischen Inhalten. Außerdem stehen Fußball-, Piraten- und Abenteuergeschichten sowie Krimis und Science Fiction auf der Liste bevorzugter Themen. Mädchen hingegen mögen Belletristik, fiktive Literatur und Tier- und Problemgeschichten. Diese Themen könnten auch im Musikunterricht berücksichtigt werden.
Hinsichtlich der musikalischen Präferenzen ist bekannt, dass Mädchen weicher klingende Melodieinstrumente bevorzugen, wie sie in der klassischen Musik gespielt werden, Jungen hingegen eher Perkussionsinstrumente oder Instrumente, die in der Rock- und Popmusik gespielt werden. Mädchen erfinden lieber als Jungen Musik und führen auch lieber etwas auf.
Beim Musikhören sind geschlechtsspezifische Unterschiede bis zum Alter von etwa zehn Jahren noch nicht so ausgeprägt. Jungen und Mädchen hören gleichermaßen gern Musik. Die Kinder sind grundsätzlich offen gegenüber vielen verschiedenen und auch unbekannten und unkonventionellen Musikstilen; dies wird als „Offenohrigkeit“ bezeichnet.3 Ab ca. zehn Jahren wird dann allerdings zunehmend von beiden Geschlechtern Popmusik bevorzugt, während klassische Musik an Ansehen verliert. Ob dies jedoch nur für das Musikhören oder auch für das instrumentale eigene Musizieren gilt, ist weitgehend unbekannt.

Was können Lehrkräfte tun?

Man ist also gut beraten, sich vor der Auswahl eines Liedes oder auch instrumentalen Stücks Gedanken darüber zu machen, wie dies wohl bei Jungen oder Mädchen ankommt. Natürlich kann man keine hundertprozentigen Vorhersagen treffen, und jede Lehrkraft hat bereits die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Lieder und Stücke in einer Gruppe hervorragend ankommen, und zwar bei Mädchen und Jungen gleichermaßen, und von einer anderen komplett abgelehnt werden, ohne dass die Gründe dafür offensichtlich sind. Dennoch ist es hilfreich, Alternativen anzubieten, um auch die Schülerinnen oder Schüler einzubinden, die dem ausgewählten Lied/Stück bzw. der Umgangsweise damit (Singen/Tanzen) eher ablehnend gegenüber stehen, weil sie es „uncool“ finden.
In der eingangs geschilderten Situation wäre es denkbar, mit Onur und Max auszuhandeln, was denn ihr Beitrag zu dem Lied sein könnte, z. B. eine selbst ausgedachte Bewegungsabfolge, die Übernahme einer bestimmten Rolle (der Frühling, der die Blumen = Mädchen begrüßt/das Aufwecken der Blumen = Mädchen durch Antippen etc.). Zwar schulen die Jungen auf diese Weise zunächst einmal nicht ihre Stimme, sind aber zu motivieren, überhaupt zu einem Gesamtergebnis der Grup­pe etwas Sinnvolles beizutragen und können später wiederum aufgefordert werden, auch mitzusingen oder einen Rollentausch mit den Mädchen vorzunehmen.
Hat man die Jungen schließlich zum Singen bewegen können, ist es wichtig, auf einen differenzierten Einsatz ihrer Stimme hinzuweisen. Es sollte also nicht gebrüllt, sondern die Stimme mit ihren verschiedenen Klangmöglichkeiten erfahren werden, wozu sich Klanggeschichten oder andere stimmliche Experimente gut eignen, in denen vielfältig mit der Stimme experimentiert werden kann.
Was das instrumentale Musizieren in der Gruppe betrifft, sollten auch Mädchen Perkussionsinstrumente spielen und Jungen Melodieinstrumente, und nicht immer muss ein Junge am Schlagzeug sitzen, auch wenn der männliche Ansturm darauf groß ist.
Wichtig ist, sowohl Mädchen als auch Jungen Räume zum Sich-Ausprobieren zu geben. Es kann zwar hilfreich sein, geschlechtsspezifisches Verhalten und eine Vielfalt an Lernwegen einerseits in gewissem Ausmaß zuzulassen; andererseits sollten Rollenklischees aber auch thematisiert und geschlechtsunspezifisches Verhalten unterstützt werden. Und nicht zuletzt kann man mit den Schülern gemeinsam besprechen, für welche Themen sie sich interessieren. Die Umgangsweisen damit können dann vielfältig und abwechslungsreich für Mädchen und Jungen gestaltet werden. Denn geschlechtsspezifische Verhaltensweisen zu überwinden, bedeutet, den Schülerinnen und Schülern neue Erfahrungen jenseits des bereits Bekannten zu ermöglichen, Erfahrungsdefizite auszugleichen und damit zu einer Bereicherung des musikalischen Erlebens beizutragen.

1 Monika Oebelsberger: „Mädchen singen, Jungen trommeln“, in: mip-Journal 7/2003.
2 Edit Schlaffer: „,Zwischen Barbie und einsamen Cowboys‘ – Mädchen und Buben heute“ (Referat des Impulstages des Frauenreferates des Landes Tirol und des Referates Frau, Familie und Senioren der Stadt Innsbruck vom 6.3.2001), zit. nach Oebelsberger 2003
3 Marco Lehmann/Reinhard Kopiez: „Der Musikgeschmack im Grundschulalter. Neue Daten zur Hypothese der Offenohrigkeit“, in: Wolfgang Auhagen/Claudia Bullerjahn/Holger Höge: Musik­psychologie. Musikselektion zur Identitätsstiftung, Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, Bd. 21, Göttingen 2011, S. 30-55.

* Edith Schlaffer, a. a. O.