Bossen, Anja

Integrierter Musikzug Baden-Württemberg

Ein Vorschlag des DTKV zur Lösung der Probleme, die sich durch die Ganztagsschule für den Instrumentalunterricht ergeben

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 2/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule schreitet kontinuierlich voran. Dass dies Probleme für außerschulische Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen mit sich bringt, ist mittlerweile bekannt – ebenso wie die Folgen der verkürzten Schulzeit an Gymnasien (G8): Es bleibt immer weniger Zeit, ein Hobby auszuüben – schon gar nicht ein so aufwändiges wie das Erlernen eines Instruments, das mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden ist.

Der DTKV Baden-Württemberg hat nun ein Modell entworfen, das eine Lösungsmöglichkeit für das Problem des rückläufigen Instrumentalunterrichts mit all seinen negativen Auswirkungen auf die gesamte Musiklandschaft bieten soll, indem es den Instrumentalunterricht in die Ganztagsschule integriert.1 Dadurch soll die berufliche Existenz der MusikpädagogInnen, die durch das immer kleiner werdende Zeitfenster der Schüler für den Instrumentalunterricht hochgradig bedroht ist, aufgewertet und gesichert, der Niedergang der gewachsenen Musik-Kulturlandschaft aufgehalten und ein Zuwachs des Anteils deutscher Musikstudierender an den Musikhochschulen erreicht werden.
Ekkehard Hessenbruch, Jutta Palzhoff, Uta Haffner und Romuald Noll haben gemeinsam ein modulares System entwickelt, das bereits in der 1. Klassenstufe ansetzt und die gesamte Schulzeit hindurch bis zur
10. Klasse an allen Schultypen fortgeführt werden kann. Vorbild ist das bereits seit Jahren praktizierte Modell des Musikprofils in der gymnasialen Oberstufe. Die Grundidee ist die eines Musikzugs an allen Schulen, der von den SchülerInnen ab Klasse 1 frei wählbar ist: der Integrierte Musikzug Baden-Württemberg (IMBW). Wer diesen Musikzug wählt, soll von Betreuungs- bzw. Unterrichtsstunden befreit werden und die Schule verlassen können, um eine Musikschule zu besuchen. Der Unterricht an der Musikschule soll entweder am Nachmittag parallel zum Betreuungsbereich oder sogar parallel zum schulischen Pflichtunterricht stattfinden.
Die Urheber des Konzepts erhoffen sich durch die Integration eine größere Nachfrage nach Instrumentalunterricht, auch von SchülerInnen aus sozial oder ökonomisch schlechter gestellten Elternhäusern, da auch diese Kinder durch die dargebotenen Präsentationen der Musikzug-Klassen Lust bekommen könnten, sich ebenfalls musikalisch zu betätigen. Für diese SchülerInnen wird die Forderung erhoben, sie im Bedarfsfall von den an der Musikschule anfallenden Unterrichtsgebühren zu befreien.

Modulares System mit ­Zeugnisrelevanz

Die angebotenen Module gliedern sich in Pflicht- und Wahlmodule. Inhalte der Pflichtmodule sind Musiktheorie und Inst­rumentalunterricht als Einzelunterricht. Aus den Wahl- bzw. Wahlpflichtmodulen können über die verschiedenen Klassenstufen hinweg verschiedene Angebote zusätzlich frei gewählt werden, z. B. Chor, Orchester oder Ensemble, Improvisation, interkulturelle Musik, Instrumentenkunde und anderes mehr.2 Insgesamt sind im Musikzug über ein ganzes Schuljahr bis zu zwei Wochenstunden zusätzlich zum regulären Musikunterricht zu belegen.
Die Grundlage für die Inhalte der Module sollen die Lehrpläne des VdM bilden. Ab der 8. Klasse könnten die zusätzlichen Mu­sikstunden in den Musikzug-Klassen statt einer weiteren Fremdsprache oder Naturwissenschaft/Technik belegt werden.
Es ist vorgesehen, dass die jeweils auf dem Instrument erbrachten Leistungen mit in die Musiknote einfließen, wie es bereits im Profilbereich der Oberstufe praktiziert wird. Dabei soll die Musiknote durch den Instrumentalbeitrag nur verbessert, nicht aber verschlechtert werden können. SchülerInnen, die sich an einem Ensemble oder Orchester beteiligen, sollen durchweg die Note „sehr gut“ erhalten. Durch die Benotung, die allein von der Lehrkraft vorzuneh­men ist, die den schulischen Musikunterricht erteilt, versprechen sich die Urheber des Modells einen rechtlich geschützten Raum für die Ausübung musikalischer Aktivitäten, wobei für die Schüler auch die Möglichkeit besteht, aus dem Musikprofil wieder auszusteigen.

Positive Ansätze und offene Fragen

Grundsätzlich ist es begrüßenswert, Modelle zur Lösung der Ganztagsschulprob­lematik zu entwickeln. Aber so überzeugend der Ansatz auf den ersten Blick wirkt, finden sich doch auch einige zu kritisierende bzw. ungeklärte Punkte, auf die das Modell bisher keine Antwort gibt.
Für das Modell spricht zunächst, dass mög­licherweise mehr Eltern ihre Kinder für den Instrumentalunterricht anmelden und die Bequemlichkeit zu schätzen wissen, dass sie ihre Kinder nicht zur Musikschule bringen müssen, da der Unterricht überwiegend während der Schulzeit stattfindet.3 Allerdings wird es Regionen geben, in denen der Weg zur Musikschule und zurück zuzüglich 30 Minuten Instrumentalunterricht keineswegs in einer einzi­gen Schulstunde von 45 Minuten zu schaf­fen ist, abgesehen davon, dass zumindest bei jüngeren SchülerInnen das Prob­lem besteht, dass diese auf dem Weg von einer Aufsichtsperson begleitet werden müss­ten – nicht nur wegen des vorgesehenen Einzelunterrichts und der Belegung verschiedener Module ein erheblicher Aufwand.
Der Gedanke, dass Schüler ihre Leistungen auf dem Instrument in die Musiknote mit einbringen können, ist überzeugend, weil es gerecht erscheint, wenn diese ihre auch außerhalb des schulischen Musikunterrichts erworbenen Fertigkeiten zeugnisrelevant einbringen können. Dies wird in anderen Bereichen wie Sport oder Kunst seit Jahren bereits praktiziert und ist auch längst im Musikprofil der Oberstufe der Fall. Ob etwas, das bisher im Hobby-Bereich angesiedelt war (nämlich das Erlernen eines Instruments oder andere musikalische Aktivitäten), nun künftig benotet werden sollte, mag aus pädagogischer Sicht strittig sein. Andererseits ist dagegen kaum etwas einzuwenden, wenn sich die Note – wie im Modell vorgesehen – nur positiv auswirken kann und so kein zusätzlicher Leistungsdruck entsteht.
Ob allerdings für alle Kinder, die sich an einem Ensemble beteiligen, zwangsläufig die Note „sehr gut“ vergeben werden sollte, ist fragwürdig. Denn es sind durchaus Unterschiede im Übeverhalten und im Können zwischen den Schülern eines Ensembles zu erwarten. Warum aber sollte jemand, der nicht übt, jedoch regelmäßig an Ensembleproben teilnimmt, dieselbe Note erhalten, wie jemand, der sich engagiert und dadurch ein höheres spieltechnisches Niveau erreicht? Diese Art der „Einheitsbewertung“ wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn am Ensemble nur Kinder teilnehmen dürften, die ein Mindestmaß an Engagement zeigen; wer nur teilnimmt, um ein „sehr gut“ zu erhalten, wäre als „Trittbrettfahrer“ ausgeschlossen.
Zu kritisieren ist hinsichtlich der Bewertung, dass die Note für den Instrumentalunterricht nicht von der verantwortlichen Instrumentallehrkraft, sondern von dem Lehrer allein vergeben werden soll, der den schulischen Musikunterricht erteilt. Vermutlich wird diese Lösung angestrebt, damit Instrumentalpädagogen nicht als „eingebunden“ in den schulischen Betrieb gelten und damit auf keinen Fall beanspruchen können, fest angestellt zu werden (was die Kosten beträchtlich in die Höhe treiben würde), obwohl sie weder Zeit noch Ort noch die Schüler aussuchen können, die sie in einer Musikprofilklasse unterrichten. Das Modell würde somit die vielerorts bereits bestehenden und oft prekären Honorarbeschäftigungsverhältnisse weiter zementieren. Selbst für festan­gestellte Musikschullehrkräfte müsste geklärt werden, wie ihnen die durch die Zusammenarbeit mit der Schule entstehenden zusätzlichen Aufgaben angerechnet werden.
Statt der zurzeit umfangreichen politischen Bestrebungen, Musikschullehrkräfte aus finanziellen Erwägungen heraus auf keinen Fall in das Schulkollegium einzubinden, sollte es für eine sinnvolle musikalische Bildung endlich ein bildungspolitisches Umdenken geben. Wie können Inst­rumentalpädagogen ohne eine Möglichkeit zum (in der Arbeitszeit enthaltenen) Austausch mit den anderen Lehrkräften der Schule, ohne weitere Hintergrundinformationen über die Kinder und nicht eingebunden in ein pädagogisches Gesamtkonzept (auch nicht in ein einheitliches Verhaltenskonzept) einer Schule sinnvoll unterrichten und an Präsentationen mitwirken, die wiederum dem Image der Schule dienen sollen?
Aus pädagogischer Sicht muss außerdem bedacht werden, dass Instrumentalunterricht ohnehin nur Sinn macht, wenn die SchülerInnen ausreichend Gelegenheit zum Üben haben. Es werden also Überäume in den Schulen benötigt, die dies ermöglichen. Wie dies angesichts der ohnehin oft problematischen Raumsituation an Schulen gewährleistet werden soll, darauf bleibt das Modell eine Antwort schuldig. Weitere Fragen: Wie soll das Üben in den Schulen betreut werden? Sollen auch jüngere Schüler und solche, die Probleme mit der Strukturierung des eigenen Lernens haben, sich völlig selbst überlassen bleiben? Nicht ohne Grund treffen die meisten InstrumentalpädagogInnen mit den Eltern ihrer Schüler Absprachen zur Unterstützung des häuslichen Übens.

Kostenpflichtiger Unterricht an der Schule?

Vor allem aber ist bei allem Optimismus eine der Hauptforderungen des DTKV wohl kaum zu erfüllen: Die Forderung, dass bezahlter Instrumentalunterricht ­Be­standteil schulischen Pflichtunterrichts wird und dafür notfalls auch Gesetzesänderungen vorgenommen werden müssten. Dies ist allein aus rechtlichen Gründen kaum vorstellbar, denn hinter der Idee, dass schulischer Pflichtunterricht grundsätzlich kostenfrei zu sein hat, steht der Gedanke der Chancengerechtigkeit, zumal der schulische Musikunterricht bereits als Grundlage einer chancengerechten musikalischen Bildung „für alle“ konzipiert ist. Er enthält – sofern er denn als Fachunterricht und nicht als Rudiment innerhalb eines musisch-ästhetischen Fächerverbunds stattfindet – einen Großteil der in den Pflichtmodulen des IMBW-Modells aufgeführten Inhalte.
Eine plausible Begründung, weshalb Inst­rumentalunterricht zusätzlich zum schu­lischen Musikunterricht überhaupt verpflichtend angeboten werden sollte, lässt sich kaum finden. Denn denkt man diesen Gedanken weiter, hieße das, dass auch andere Angebote, die den Anspruch erheben, der Bildung und Persönlichkeitsentwicklung zu dienen (z. B. Sport oder Schach), für alle verpflichtend und im Bedarfsfall kostenfrei angeboten werden müssten.
Hinzu kommt, dass bereits seit Jahren zumindest an den öffentlichen Musikschulen lange Wartelisten existieren, die aufgrund der chronischen Unterfinanzierung der Musikschulen nicht abgebaut werden können. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass eine wie auch immer politisch zusammengesetzte Landesregierung tatsächlich bereit sein wird, ein noch kostenintensiveres Modell zu finanzieren, es sei denn, der Druck der Öffentlichkeit wäre immens – doch damit ist angesichts der Erfahrungen beim bisherigen Kulturabbau eher nicht zu rechnen.

Den schulischen Musik­unterricht stärken!

Wäre es daher nicht an der Zeit, den schulischen Musikunterricht zu stärken, wie es bereits seit Jahren von verschiedenen Verbänden gefordert wird, statt den schulischen Pflichtbereich zunehmend (preiswerteren) Musikschullehrkräften an Stelle von Schulmusikern zu überlassen?
Bezüglich des Instrumentalunterrichts zeigt bereits das Beispiel „JeKi“ – auch wenn es konzeptionelle Unterschiede zum Modell des IMBW aufweist –, dass so manche Erwartung an einen schulisch eingebundenen Instrumentalunterricht sich nicht erfüllt, sowohl im Hinblick auf Chancen­gerechtigkeit und kulturelle Teilhabe als auch hinsichtlich einer erhöhten Nach­frage nach Instrumentalunterricht im Anschluss an die Projektteilnahme. Und wie auch bei anderen flächendeckenden Konzeptionen befassen sich die Urheber des IMBW-Modells nicht mit dem Beschäf­tigungsstatus der Musikschullehrkräfte. An keiner Stelle wird eine Festanstellung der Lehrkräfte gefordert, vielmehr ist die fehlende Einbindung der Lehrkräfte in schulische Abläufe besonders dazu geeignet, mögliche Ansprüche von Honorarkräften von vornherein auszuschließen.
Viele der hier angeführten Kritikpunkte ließen sich wohl durch einfache Modifikationen des vorgestellten Modells lösen. Allerdings haben die Erfahrungen mit schulischen Reformen (z. B. jahrgangsübergreifendes Lernen, Inklusion) in den vergangenen Jahren häufig gezeigt, dass auch fundierte Ideen aus finanziellen Erwägungen heraus so mangelhaft umgesetzt werden, dass sie bestenfalls keine oder aber sogar nachteilige Wirkungen haben. Das Grundproblem, die dauerhafte Unterfinanzierung des öffentlichen Bildungsbereichs und noch mehr des Kultursektors, sowie der mangelnde politische Wille, an dieser Situation etwas zu ändern, wird auch für dieses Modell zur entscheidenden Gelingensfrage.

1 Der Originaltext des DTKV ist nachzulesen unter www.dtkv-bw.de/imbw.html
2 zur Übersicht über die Module siehe www.dtkv-bw.de/images/pdfs/IMBW.pdf
3 Der pädagogische Wert eines außerschulischen Lernorts soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.