Mahlert, Ulrich

Der Brückenbauer

Dank an Reinhart von Gutzeit, der sich als Mitherausgeber von „üben & musizieren“ verabschiedet

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2019 , Seite 42

Die Zeitschrift „üben & musizieren“ besteht seit 1984; mit dem vorliegenden Heft wird der 36. Jahrgang ­ab­geschlossen. 217 Hefte sind mitt­lerweile erschienen. Im Bücherregal ­nehmen sie fast einen Meter Raum ein. Dass „üben & musizieren“ in musikpäda­gogischen Fahrwassern so lange erfolgreich Kurs halten konnte, daran hat Reinhart von Gutzeit maßgeblich Anteil. Dieses Heft ist das letzte, das er als Mit­herausgeber betreut. Bera­tend wird er uns weiterhin zur Seite stehen.

Alle, die mit Reinhart von Gutzeit für üben & musizieren zu tun hatten, haben Grund zur Dankbarkeit für die stets konstruktive und inspirierende Zusammenarbeit: Verlag, Redaktion, Ständige Mitarbeiter, Verbandsvertreter, Autorinnen und Autoren – und natürlich die Leserschaft. Am allermeisten Anlass zur Dankbarkeit habe ich selbst. Denn von Anfang an durfte ich mit Reinhart von Gutzeit für unsere Zeitschrift arbeiten und sie mitgestalten. Zusammen agierten wir als Mitbegründer, Schriftleiter und Mitherausgeber.
Ich empfinde unser jahrzehntelanges Zusammenwirken als ein großes Glück. In der Regel gehen die Zweckbündnisse solcher Zweiergespanne nach einigen Jahren zu Ende. Heikle Meinungsverschiedenheiten und Animositäten kommen auf, die Persönlichkeiten und ihre Interessen entwickeln sich unterschiedlich und stimmen nicht mehr zusammen, die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich zu arrangieren, nehmen ab. Ganz anders in unserem Verhältnis. Das anfangs vorhandene Fremdeln löste sich bald auf und wich einer vertrauensvollen Teamarbeit, die sich durch wechselseitigen Respekt und durch zuverlässige Achtung der Sichtweisen des Partners auszeichnete.
In der Beurteilung von erbetenen und angebotenen Texten stimmten wir meistens überein; wo nicht, war die abweichende Auffassung des anderen immer ein Anlass, Ausführungen in anderem Licht zu sehen, zunächst gebildete eigene Urteile zu überdenken und bereit zu sein, sie zu revidieren. Immer bewunderte ich Reinhart von Gutzeits Umsicht, seine Fairness und sein Verantwortungs­gefühl. Meist verständigten wir uns per Mail – ihn per Telefon zu erreichen, war oft nur über die dem Direktor bzw. Rektor vorgeschalteten, auf mich stets hoheitsvoll, respekteinflößend und daher eher kontaktabwehrend wirkenden Vorzimmerdamen möglich. Neben sachlicher Kommunikation kitzelten wir dabei immer wieder mit mancherlei launigen Bemerkungen unsere Humorantennen, was der Freude an der Arbeit zugute kam.

Produktive ­Achtsamkeit

Unsere beiderseitige Achtsamkeit für die Belange von üben & musizieren wuchs dadurch, dass sich die Entwicklungen unserer Arbeitsfelder tendenziell überkreuzten. Reinhart von Gutzeit, der sich selbst gern als einen „in der Wolle gefärbten Musikschulmann“ bezeichnet, begann seine Arbeit für die Zeitschrift als Leiter der Musikschule Bochum, einer der größten Schulen des Verbands deutscher Musikschulen, dessen Bundesvorsitzender er von 1990 bis 1996 war. Danach lag sein Wirkungsschwerpunkt im Hochschulbereich: Von 1995 bis 2006 amtierte er als Direktor des Bruckner-Konservatoriums in Linz, das unter seiner Leitung zur Anton Bruckner Privatuniversität aufstieg, sodann von 2006 bis 2014 als Rektor der Universität Mozarteum in Salzburg.
Umgekehrt weitete sich mein anfangs nur hochschulisches Arbeitsfeld im Laufe der Jahre intensiv in den Musikschulbereich aus. Dadurch kam es bei uns nie zu domänenbedingten Blickverkürzungen. Impulse für die Musikschularbeit und andere Musizierpraxen mit Laien waren uns ebenso wichtig wie Bemühungen um Anregungen für die Ausbildung an Hochschulen. Reinhart von Gutzeit kam dabei zugute, dass er das musikalische Ausbildungswesen von der Basis bis zur Spitze erlebt und mitgestaltet hatte. Diese vielfältigen Erfahrungen ermöglichten ihm, die musikpädagogische Landschaft zu überblicken und im Zusammenhang zu sehen, was alles in ihr stattfand. Auch seine Tätigkeiten als langjähriges Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrats und als Vorsitzender des Projektbeirats von „Jugend musiziert“ kamen üben & musizieren zugute.
Besonders bei den jährlich stattfindenden Treffen der Redaktion, der Herausgeber und der Ständigen MitarbeiterInnen brillierte Reinhart von Gutzeit immer wieder mit seinen Qualitäten. Die oft lebhaft und vielstimmig ausgetragenen Sitzungen dienen der Weiterentwicklung des Profils und der strategischen Planung von üben & musizieren. Dazu gehören das Sammeln von prinzipiell und aktuell wichtigen Themen, das Festlegen von Themenschwerpunkten des nächsten Jahrgangs und das Benennen potenzieller AutorInnen zu bestimmten Themen.
Für all das war Reinhart von Gutzeit stets ein produktiver Anreger und Geber. Oft schwieg er eine ganze Weile, hörte aufmerksam den diversen Statements zu, um dann mit seiner ruhigen, sonoren Stimme in klar geäußerten, umsichtigen Gedanken die Fäden zusammen­zuführen und überzeugende Vorschläge zu machen. Stets ließ er andere Auffassungen gelten und nahm sie als Anregungen zum Weiterdenken auf. Im besten Sinne wirkte er als Diplomat: ausgleichend, integrierend und voranbringend. Nicht selten entkrampfte er heftige Diskussionen mit virtuos erzählten Anekdoten und Begebenheiten, die zwar des Öfteren ein (mir nicht immer genehmes) Ritardando im Austausch bewirkten, dann aber die Gesichter aufhellten und die Köpfe neu belebten.
Zum Schluss dieses Artikels soll Reinhart von Gutzeit selbst das Wort haben, und zwar eines, das mir geeignet scheint, auch unsere Zeitschrift weiterhin voranzubringen. Aus den vielen seiner Texte (Aufsätze, Editorials, Interviews), die in üben & musizieren erschie­nen sind, wähle ich einen Auszug aus dem programmatischen Vortrag, den er 1989, also vor genau 30 Jahren, auf dem damals stattfindenden 10. Musikschulkongress des VdM ge­halten hat:

Anmerkungen zum Konzept einer „offenen“ Musikschularbeit

Eine „offene Musikschule“ – wie lässt sie sich beschreiben?
– Sie wartet nicht auf besonders begabte und besonders motivierte Schüler, sondern sie will durch lebendigen Unterricht und vielfältige Angebote des Zusammenspiels ihre Schüler begeistern und deren Leistungsbereitschaft herausfordern.
– Sie fühlt sich nicht nur der Musikerziehung, sondern auch allgemeinen erzieherischen Zielen verpflichtet, soweit ihnen mit Musikunterricht gedient werden kann. Sie ist bereit, Kindern und Jugend­lichen, die es schwerer haben als andere, Behinderten, Kindern aus sozialen Brennpunkten, Kindern aus Aussiedlerfamilien, besonders zu helfen.
– Sie wird auch in Zukunft in erster Linie für Kinder und Jugendliche zuständig sein. Aber sie fühlt sich aufgerufen, auch für Erwachsene und Senioren, die sich zur Musikschule hingezogen fühlen, Konzepte zu entwickeln.
– Die Vermittlung der „Klassischen Musik“ (im weitesten Sinn), ist als Schwerpunkt ihrer Arbeit unum­stritten. Gleichwohl sollte es keine musikalischen Erscheinungsformen geben, die von der Musikschule zur Tabuzone erklärt werden. Auch die Beschäftigung mit der „ernsten Musik“ darf Spaß machen.
– Sie beobachtet aufgeschlossen alle Entwicklungen der „Musikszene“ und prüft, ob sie mit musik­pädagogischen Angeboten darauf eingehen kann. Dabei hält sie eisern an ihrem Bildungsanspruch fest. Sich jedem aktuellen Trend des Musikmarkts anzupassen, hat sie keinen Anlass.
– Sie will dazu beitragen, die Gräben zwischen den musikalischen Stilen und deren Anhängern zu überbrücken. In einem Musikschulkonzert können ein Blockflötenensemble und eine Rockgruppe nacheinander auftreten.
– Sie beansprucht selbstbewusst einen gleichberechtigten Platz im Gefüge des Bildungssystems. Aber sie stellt keine Alleinvertretungsansprüche auf musikalischem Gebiet. Zur allgemeinbildenden Schule und zur Volkshochschule, zu Privatmusiklehrern und musikalischen Laienvereinigungen strebt sie Partnerschaft statt Konkurrenz an.
– Sie möchte erreichen, dass Musik im Leben ihrer Schüler einen zentralen Platz einnimmt. Aber der Entwicklung zum weltfremden musikalischen Fachidioten will sie nicht Vorschub leisten. Darum be­müht sie sich, ihre Schüler auch mit anderen künstlerischen Sparten in Kontakt zu bringen, sei es innerhalb oder außerhalb der Musikschule.
– Sie bemüht sich, ihre Lehrerschaft in vielfältiger Weise zu Kooperation anzuregen. Das bedeutet:
sich gemeinsam fortzubilden, bei der Entwicklung pädagogischer Konzepte zusammenzuarbeiten, aber auch: miteinander und gemeinsam mit den Schülern Musik zu machen. Das sind wichtige Mittel, um unsere pädagogische Spannkraft zu erhalten, an der Alltagsstress und Berufsroutine ja ständig nagen. Aber nur, wer selbst noch für Musik Begeisterung empfindet, kann letztlich Schüler gewinnen und motivieren. Und nur, wer selbst nicht glaubt, alles Erforderliche längst zu wissen, kann auch seinen Schülern mit der gewünschten Offenheit gegenübertreten.

Quelle: Reinhart von Gutzeit: „Musikschulen bauen Brücken… Anmerkungen zum Aachener Kongress und zum Konzept einer ,offenen‘ Musikschularbeit“, in: üben & musizieren 3/1989, S. 151-157, hier: S. 157. Der 10. Musikschulkongress fand vom 21. bis 23.April 1989 in Aachen statt und stand unter dem Motto „Musikschulen bauen Brücken“.

Dieser mit der für Reinhart von Gutzeit typischen Weitsicht formulierte Text zum Konzept der „offenen Musikschule“ hat wie kaum ein anderer Impuls zur Klärung des Selbstverständnisses öffentlicher Musikschulen hierzulande beigetragen und ihnen bis heute gültige, weiterhin zu verfolgende Zukunftsperspektiven aufgetan. Zum Zeitpunkt des Vortrags, im April 1989, war die friedliche Revolution mit der alsbaldigen Überwindung des DDR-Regimes und dem Weg zur deutschen Einheit noch nicht abzusehen. Als dann in Deutschland zwei völlig verschiedene Musikschulsysteme aufeinandertrafen und sich zusammentun mussten, haben Reinhart von Gutzeits Impulse klärend und produktiv gewirkt. Es lohnt, diesen in meinen Augen „klassischen“ Text auch heute wieder aufmerksam zu lesen und zu bedenken – als eine Art Bildungsprogramm für öffentliche musikpädagogische Einrichtungen, also nicht nur für Musikschulen, sondern mutatis mutandis auch für Musikhochschulen. Und noch mehr: Viele der Punkte sind höchst nützlich, das weite Aufgabenfeld von üben & musizieren ins Bewusstsein zu bringen und immer wieder Offenheit als Leitdevise unserer Zeitschrift zu praktizieren.
Im Namen aller an üben & musizieren Mitwirkenden und vor allem ganz persönlich: Danke, lieber Reinhart!

 

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